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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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aufmerksamen Umgang mit den eignen Bedingungen. In dieser Aufgabe ist er vollkommen einsam. Aller Rat, den wir einem Künstler geben, hilft immer nur seinem kritischen Vermögen. (Ganz abgesehen davon, daß der Ratende im Grunde immer sich selber rät.) Unter Umständen könnte es also richtig sein, daß er dem Rat seiner besten Freunde davonrennt und sich scheut, sie durch eine schlechtere Arbeit zu enttäuschen; gerade diese Arbeit, von den Freunden nur mit Bedauern hingenommen, kann für ihn wertvoller sein als das Bessere, was sie erhofft haben, wertvoller nicht als Werk, aber wertvoller für sein Schaffen, nötig für die Wiederherstellung seiner produktiven Balance. Wie wenig sich die wirklichen Künstler um ihr künstlerisches Prestige kümmern! Ihre erste Sorge ist nicht das Meisterwerk, sondern das Schaffen-Können, das Lebendig-Bleiben, selbst wenn es sie oft unter das errungene Niveau zurückwirft.
     
    Schwimmen in der Brandung! Heute war Flut, so daß wir die Buhnen nicht sahen, die Pfosten, die von bläulich-schwarzen Miesmuscheln ganz überpanzert sind; sogleich ist man blutig. Aber sonst ist es eine Wonne ohnegleichen, fast ohnegleichen, das Springen im Gischt, dort, wo die letzten Wogen sich höhlen und dann zusammenstürzen; oft kommt es wie Lawinen, die verstäuben, und in der Abendsonne sieht es aus, als bade man in purem Messing oder Nickel.
    Die Möwen:
    Wie sie immer das Kliff entlangsegeln, den Hangwind nutzend, mit beinahe steifen Flügeln, schnell wie ein Pfeil, bis sie sich plötzlich, wie abgeschossen, auf das Wasser fallen lassen, eine Beute fischen, aufwirbelnd vor der nächsten Welle –
     
    Teegespräch in einem gar tadellosen Landhaus, Stil der gutendreißiger Jahre, Klinker, Truhen aus alten Bauerngeschlechtern, Stiche, Geländer aus Schmiedeeisen, Berliner Porzellan, Kamelhaardecken, Rassehunde.
    »Die Schweiz hat doch nichts gelitten!«
    »Nein«, sage ich.
    »Hätte Ihrer Schweiz aber ganz gut getan«, sagt die Dame: »gerade der Schweiz! Leiden ist gesund, wissen Sie –.«
    Wir sitzen in einem gar tadellosen Garten, der in den guten dreißiger Jahren, wie ich später höre, manche Uniformen empfangen hat, hohe und höchste, braune und schwarze; die Aussicht ist herrlich; nur ganz am Horizont sieht man die Baracken der schlesischen Flüchtlinge, dieser Opfer eines verbrecherischen Auslandes.
    Zur Schriftstellerei:
    Vor Jahren habe ich als Architekt eine jener Fabriken besucht, wo unsere glorreichen Uhren gemacht werden; der Eindruck war niederschmetternder als jemals in einer Fabrik, aber noch in keinem Gespräch ist es mir gelungen, gerade dieses Erlebnis, eines der stärksten, dermaßen wiederzugeben, daß es sich auch im Zuhörer herstellte. Es bleibt, ausgesprochen, stets belanglos oder unwirklich, wirklich nur für den Betroffenen, unsäglich wie jedes persönliche Erlebnis – oder richtiger: jedes Erlebnis bleibt im Grunde unsäglich, solange wir hoffen, es ausdrücken zu können mit dem wirklichen Beispiel, das uns betroffen hat. Ausdrücken kann mich nur das Beispiel, das mir so ferne ist wie dem Zuhörer: nämlich das erfundene. Vermitteln kann wesentlich nur das Erdichtete, das Verwandelte, das Umgestaltete, das Gestaltete – weswegen auch das künstlerische Versagen stets mit einem Gefühl von erstickender Einsamkeit verbunden ist.
     
    Wanderung nach List, Wanderdünen, zurück über die Vogelkoje, überall trifft man auf Anlagen der deutschen Luftwaffe.
     
    Um neun Uhr scheint noch die Sonne, die Dämmerung dauert bis Mitternacht, bis sie sich fast unmerklich in Mondhelle verwandelt. Man mag nicht schlafen. Die Regenpfeifer schwärmenauch noch über die Heide. Geruch von Salz, von Tang, von Heu. Die Tümpel des Wattenmeeres gleißen wie Scherben unter dem Mond. Der Leuchtturm, der bei jedem dritten Atemzug meinen warmen Heuhaufen bescheint, hat etwas rührend Arbeitsames in dieser großen Stille. Ein andrer blinkt drüben an der dänischen Küste, aber sehr winzig. In einer Umzäunung weiden zwei Pferde. Oft hält man den Atem an, als müsse jeden Augenblick etwas Unglaubliches geschehen. Ein Pferd hat sich geschüttelt, weiter nichts. Eine erregende, unerlöste Stille, wie sie einem Engel vorausgehen müßte –
    Einmal eine Sternschnuppe.

Reminiszenz
    Das Teegespräch mit einer braunen Dame – Unter dem Allerlei, was mir dazu einfällt, findet sich die kleine Erinnerung an meine letzten Diensttage, April 1945 in Graubünden. Ich ging oft an die Grenze,

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