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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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vor sich geht. Wir wußten damals schon viel; endlich berichtete einer, der dabei gewesen war … Eines Morgens, als ich wieder an dem Scherenfernrohr saß, traute ich meinen Augen nicht: auf der Straße, wo wir bisher nur die deutschen Posten und manchmal eine alte Bäuerin erblickt hatten, erschienen sie in ganzen Kohorten, Zwangsarbeiter, die ohne Bewachung marschierten. Ich richtete das Fernrohr auf die Brücke; die deutschen Wachen waren bereits dabei, die Spanischen Reiter abzuziehen. Die Kohorte ging über die Brücke, die in den vergangenen Jahren so mancher einzelne hätte überschreiten wollen, und nicht wenige haben es versucht, aber die meisten hat irgendwo eine Salve erreicht. Die Kohorte ging wirklich über die Brücke, und obschon auf unsrer Seite niemand war, winkten sie mit Mützen und Tüchern. Ich nahm das Telefon und meldete: Friede. Das war leider verfrüht, aber in der Tat kamen immer neue Kohorten, nach meiner Ablösung ging ich an die Grenzehinunter. Viele sangen, vor allem die Franzosen. Auch Frauen waren dabei, eine junge Holländerin. Dazwischen Kriegsgefangene, Gesichter aus allen Völkern. Natürlich hatten wir alle Zigaretten gekauft, die es in dem kleinen Wirtshaus gab, und verteilten, soweit der Vorrat reichte; da sie kein Feuer hatten, gab es sich von selbst, daß man immer wieder ein einzelnes Gesicht ganz aus der Nähe sah. Die meisten hatten das Bedürfnis, etwas zu sagen:
    »Ik – finf Jahr!«
    Andere versuchten klarzumachen, wie viele Kinder sie hatten. Einer mit geschorenem Kopf, dessen Sprache ich nicht einmal erraten konnte, umarmte mich, küßte mich, wie mich einmal ein griechischer Bauer geküßt hat, und heulte vor Freude … Daneben standen die deutschen Wachen, der Berliner, der Rothenburger, der schwieg, während der andere sehr leutselig winkte:
    »Gute Reise, viel Glück, gute Reise!«
    Kurz darauf wurden wir versetzt. An der italienischen Grenze war es nicht minder rege. Am Ofenpaß erstellten wir Baracken für die Flüchtlinge, andere waren auf Patrouille. Selten kamen sie allein zurück. Besonders genau erinnere ich mich an einen Deutschen in Zivil, elend, hungrig, müde, denn in der Höhe lag noch viel Schnee, nachtsüber gefroren und harsch, tagsüber weich, so daß man bis zu den Hüften einsank. Wir setzten ihn an den Ofen, der unsere kleine Baracke wärmte. Suppe essend, die er nötig hatte, versicherte er, daß er nur nach Haus wollte, nach Köln, wo er für Frau und Kinder sorgen müßte, und alles war sehr begreiflich, sehr nachfühlbar, nur lag es nicht an uns, ob unser »Ländle« ihn aufnahm oder nicht. Wir warteten über zwei Stunden. Unser Korporal, ein Quatschkopf auf der ganzen Linie, gab ihm Zigaretten, zuerst einzelne, dann ein ganzes Päcklein, verbunden mit einem Eigenlob unsrer Güte, das zum Ausspucken war. Schließlich wies ich den Schwätzer zurecht, leider erfolglos, denn der arme Kölner unterstützte ihn mit beflissener Schmeichelei, als könnte dieser an der fälligen Entscheidung irgend etwas ändern. Die beiden waren sich ebenbürtig. Eine Wendung dieses leidigen Gespräches brachte erst eine illustrierte Zeitung,die zufällig auf dem Tisch lag. Ob er sie anschauen dürfte, fragte er höflich, er hätte seit Wochen keine Zeitung mehr gesehen. Es war eine alte. Die Leiche des erschossenen Duce, anzusehen wie eine umgekippte Statue. Er betrachtete es wortlos, blätterte weiter. Bilder von Warschau, schreckliche. Der Mann war sehr betroffen, schob die Zeitung weg und versuchte zu schweigen; erst nach einer Weile, als ich es nicht mehr erwartete, sagte er:
    »Wenn eure Zeitungen solche Bilder bringen, wundert es mich nicht, daß man uns haßt.«
    Dazu fiel mir nichts ein.
    »Das glaube ich nicht«, sagte er versöhnlicher: »das machen Deutsche nicht. Ich bin selber bei der Wehrmacht gewesen – Nein!« sagte er mit einem entschiedenen Kopfschütteln und mit dem Ton eines Menschen, der allein zuständig ist: »Wie sie die Juden umgelegt haben damals in Riga und später in Rußland, das habe ich selber gesehen – aber das, nein, das glaube ich nicht! Unmenschen sind wir nicht.«
    Damals habe ich kein Tagebuch geführt, doch diesen Satz habe ich mir aufgeschrieben. Später kam der Befehl, der Mann müsse wieder zurück. Er wurde sehr bleich. Während ich, da die Ablösung an mir war, Helm und Gewehr nahm, fluchte er natürlicherweise über unser Land, über Humanität und so. Der Weg war schmal; er stapfte voran, ich hinterher. Gesprochen

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