Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
sie vor Augen hat. Zwar versuche ich es jedesmal wieder; das Ergebnis ist stets das gleiche: Krampf. Es steht auch gar keinechtes Bedürfnis dahinter. Solange ich alldies vor Augen habe, wozu soll ich es beschreiben? Jetzt ist Sehenszeit.
Ganz überspitzt: wer ein Schafott besteigt, erlebt die Angst vor dem Beil, nicht das Beil. Und wenn einer auf dem Schafott begnadigt worden ist, dürfen wir kaum annehmen, daß der Mann nichts erlebt habe. Noch kein Mensch hat seinen Tod erlebt; jeder erlebt die Todesangst, die Erwartung –
»Wir, die wir den Krieg erlebt haben –«
(Abgesehen von allem übrigen, was sich zu diesem immer wiederkehrenden Ausspruch sagen ließe, ist es komisch, wenn ein Mensch sich mit seinem Erlebnis brüstet: statt daß er uns zeigt, was das Erlebnis aus ihm gemacht hat – oder was er aus seinem Erlebnis gemacht hat.)
Verwechslung zweier Begriffe: erleben und dabei sein.
Das weitaus meiste, was Menschen erleben, liegt wohl im Bereich der Ahnung; schon der andere Bereich der Erlebbarkeit, die Erinnerung ist viel kleiner. Wäre es nicht so, gäbe es überhaupt keine Dichter, nur Reporter, und es gäbe vor allem auch keine Leser. Was tut denn der Leser, indem er ein Buch aufschlägt? Er verläßt sein Dabeisein, da es ihn nicht erfüllt; er begibt sich in den Bereich seiner Ahnung: um etwas zu erleben.
Hamburg, September 1949
Ausfahrt in der Morgenfrühe, Nebel über den Sandbänken, später die blanke Bläue über der offenen See. Ein paar Stunden ohne Küste. Gegen Abend fahren wir die Elbe hinauf; Parade der ausfahrenden Dampfer, jeder mit einer Schleppe von braunem Rauch. Möwen, Bojen, Leuchttürme. Und dann, je näher wir dem Hafen kommen, das Gewirr der Kranen, Schlepper, Kutter, Maste aller Art und aller Größen, Baggerschiffe, eine schwimmende Ruine aus Rost, Yachten, blank und spielerisch, Takelwerk, Fabriken dahinter und Schuppen ohne Zahl, Schlote, Gasometer, alles hat die gleiche verölte Schwärze, ob Eisen oderStein oder Holz – Menschenwelt: Güterzüge, Brücken, Straßenbahnen, Schleusen, Lastwagen, Flugzeuge, eine Milchstraße von Glühbirnen … Jetzt ein Gewitter über der Alster, anzusehen wie das Schlußfeuerwerk eines Sommers, das mit Donnern nicht spart, oft in nächster Nähe schmetternd, daß man meint, nachher müßte man taub sein, dazu das Rauschen und Tosen in den Wipfeln einer alten Allee, Regen jagt mit klatschenden Fahnen über Dächer und Terrassen und See, über den Straßen schwebt es wie weißlicher Nebel, ein Schleier von Spritzern; nebenan die Ruine einer Villa, im Nächtlichen schimmernd wie andere Villen; dann aber, sooft ein Blitz sie durchzuckt, sieht man, daß sie keine Stockwerke mehr hat, und die Fassade erscheint wie eine schwarze Larve; dazu das übermütige Gurgeln aus einer überlaufenden Dachtraufe.
Unterwegs
Nationalistisch: wenn ich die Forderung, die meine Nation an mich stellt, allen anderen Forderungen überordne und einen anderen Maßstab als den Vorteil meiner Sippe nicht anerkenne; wenn ich sittliche Gebote, zum Beispiel christliche, zwar im Munde führe und sogar vertrete, solange meine Nation nichts dagegen hat, aber nie und nimmer, wenn sich diese Gebote einmal gegen meine Nation richten; wenn ich zu jeder Tat bereit bin, selbst wenn sie nach meinen sittlichen Begriffen ein Verbrechen ist, und wenn ich sie dennoch mit Stolz, mindestens mit Gehorsam verrichte, um ein guter Hottentotte zu sein; wenn ich nichts Höheres kenne als meinen Trieb und vor diesem auf die Knie falle, indem ich meinen Trieb, ins Millionenfache meiner Nation vergrößert, für etwas Geistiges halte, für das Geistige schlechthin, dem alles und endlich auch sein Gewissen aufzuopfern rühmlich ist, tugendhaft – kurzum, wenn ich ein Nihilist bin: ohne den Mut dazu.
Eifersucht
Wenn der Unselige, der mich gestern besucht hat, ein Mann, dessen Geliebte es mit einem andern versucht, wenn er ganz sicher sein könnte, daß die Gespräche eines andern, die Küsse eines andern, die zärtlichen Einfälle eines andern, die Umarmung eines andern niemals an die seinen heranreichen, wäre er nicht etwas gelassener?
Eifersucht als Angst vor dem Vergleich.
Was hätte ich sagen können? Eine Trauer kann man teilen, eine Eifersucht nicht. Ich höre zu und denke: Was willst du eigentlich? Du erhebst Anspruch auf einen Sieg ohne Wettstreit, verzweifelt, daß es überhaupt zum Wettstreit kommt. Du redest von Treue, weißt aber genau, daß du nicht ihre Treue
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