Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
unterhielt mich mit den deutschen Wachen; es waren lauter ältere Jahrgänge, zehn Männer, die nicht einverstanden waren, dazu zwei Braune. Einer von den zehn, der ein ungewöhnlich liebes Gesicht mit fast kindlichen Augen hatte, war aus Rothenburg. Sein Ausspruch: Immer wieder kommt der Krieg über unser armes deutsches Volk! Wir betrachteten den Abend und sprachen über den Frühling, über die Vögel, über das Wetter. Er war Familienvater, Katholik, sein Sohn war in Rußland gefallen. Wir vereinbarten, daß ich an dem Tag, wo Rothenburg von den Amerikanern genommen ist, einen bestimmten Stein aus der Mauer reiße. Denn sie konnten nur an die Grenze kommen, wenn sie Dienst hatten. Sie waren froh um Tabak und Nachrichten … Tagsüber hatte ich einen Posten oben im Wald, wo man mit dem Scherenfernrohr das ganze Tal überwachte. Im Morgengrauen sah ich jedesmal den Ausmarsch der Zwangsarbeiter, sah, wie sie die Hände rieben und endlich zur Schaufel griffen, sah die deutschen Wachen, die danebenstanden mit umgehängtem Gewehr und an den Füßen froren, während ich schon dieSonne hatte. Zu melden gab es wenig; hin und wieder eine feldgraue Limousine, die von Italien nach Österreich eilte, stundenlange Kolonnen während der Nacht, tagsüber eine Bäuerin auf dem Feld. Ich erinnere mich genau an das tiefenlose Bild, das man im Scherenfernrohr hat, an den lautlosen Film mit den Gesten der Sprechenden, dann wieder ein Wölkchen aus der Pfeife, gegen zehn Uhr bekamen die Sklaven ihr erstes Frühstück … Am Abend, wenn ich frei war, ging ich wieder an die Grenze hinunter, hockte auf die Felsen, bis einer mich sah und kam. Einer war ein Berliner, immer etwas übermunter erzählte er von seinen Verwandten in der Schweiz, wo es gewiß nicht an Speck und Butter fehlte. Und Schlagrahm! Noch könnten sie leider nicht herüberkommen, sagte er, denn die »Beiden« ließen sie nicht aus den Augen. Auch dieser war von einer rührenden Naivität. Seit Jahren bewachten sie die fremden Sklaven, die auch Frau und Kinder haben, sie bewachten sie nicht mit Vergnügen, das glaubte ich ihnen ohne Zögern, und infolgedessen erschien es ihnen als ein beispielloses Unrecht, wenn sie ihrerseits – wo sie doch nichts verbrochen hatten – in eine Gefangenschaft geraten sollten. Ich hielt es für geziemend, zu hören, nicht zu sprechen. Dabei hörte ich viel von den »Beiden«, die jeden, der muckst, noch heute umlegen würden. Nur einmal fragte ich: Was macht ihr mit den beiden, wenn es vorbei ist?
Einer sagte:
»Die soll der Teufel holen –.«
So standen wir da; den Teufel habe ich nicht gesehen, nur die Männer: jeder mit einem Gewehr und einem Gürtel voll Patronen … Und mit einer Pfeife – Schüsse habe ich nie gehört, das Tal war still, friedlich, unheimlich, wir drehten an unserem Scherenfernrohr, um zehn Uhr bekamen die Sklaven wieder ihr Frühstück, Berlin war erstürmt, Goebbels verstummt, zu hören war nichts als der schmelzende Schnee, das Tropfen, manchmal plumpste ein ganzes Kissen von den Tannen herunter, zu sehen war nichts als das Tal, das Hin und Her der deutschen Wachen, die Felsen in der Sonne, das Drahtverhau, die vermooste Grenzstraße. Zu melden: Übergänger aller Art, die es während derNacht wagten. Mit der ersten Morgensonne kamen sie dann herunter, und gegen Mittag erreichten sie unseren Posten, hinkend, halb verfroren, zerschunden, meistens Franzosen, einmal zwei Russen. Täglich wurden es mehr. Einmal ein sehr junger Leutnant der Wehrmacht. Ich hätte gerne mit ihm gesprochen; ein schönes kluges Gesicht, ein Jüngling aus gutem Stall. Aber er hatte schon genug aufdringliche Leute um sich. Vor allem erinnere ich mich an zwei junge Burschen aus Belfort, die vor drei Jahren verschleppt worden waren; Neunzehnjährige. Sie waren von Stuttgart gekommen in einem ziemlichen Bogen; beide in den Kleidern, die sie damals in Belfort getragen haben; der eine war ein kränklicher Bursche, ein proletarisches Kind, der andere aus noblem Haus, ein dreister und abgebrühter Gangster, den sie schon zweimal auf der Flucht erwischt hatten. Zum Schluß winkte er ins Tal hinaus: Deutschland, rief er, adieu! Dazu spuckte er in hohem Bogen. An dem Tag, als ein Mann von der Waffen- SS kam, war ich leider auf Urlaub; mein Freund, dem ich vertraue, schilderte ihn als einen Entsetzten, jedenfalls hatte er viel erzählt, und meine Kameraden schilderten mit glänzender Übereinstimmung, wie die Ausrottung eines ukrainischen Dorfes
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