Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Menschenwerk, Menschenwelt ohne Schaden, ohne Zerfall, ohne Verlotterung und Verlumpung, ohne Verwesung, ohne die penetrante Fratze der Vergängnis … Nicht einmal um die Kinder, die da im Schutte spielen, ist Hoffnung, Gloriole der Zukunft; sie werden zur Schule gehen und erwachsen werden, gewiß, aber nicht anders als die Erwachsenen von jetzt; hin und wieder werden sie die Marseillaise singen, gewiß, die Inbrunst und Hoffnung ihrer Ahnen: Le jour de gloire est arrivé! – Wir haben den Zug verpaßt, sonst wären wir jetzt in Marseille; wir haben Zeit, Constanze und ich, Zeit wie die Männer, die drüben auf den Bänken hocken, die Arme auf der gußeisernen Lehne, das Kinn auf den Armen. Was sie machen? Sie schauen auf die Straße. Es ist Donnerstag. Einmal kommt ein Begräbnis, ein kleiner Menschenzug, voran ein weißer Priester und ein Meßknabe, ein schwarzer Wagen mit gemaltem Silber, dahinter eine Witwe und etwas Gefolge im geduldigen Schritt. Da stehen sie auf, die Männer gegenüber, und ziehen ihre Mützen. Und irgendwo über den Dächern bimmelt eine Glocke. Der Mistral wirbelt das Laub. Kurz darauf ein Lastwagen mit jungen Burschen, die etwas feiern, wir haben sie schon vorher getroffen, betrunken und grölend; ein Lastwagen mit sieben Trikoloren. Vorbei. Die Luft ist wie ein Gespinst aus Glas, spröde und herbstlich, heiter, man sieht die Nähe des Meeres. Die Totenglocke bimmelt noch immer. Einmal ein kleiner Esel, der langsam einen girrenden Karren zieht, einen Zweiräder, traumhaft langsam; auf einem Bündel von Heu sitzt einekrumme, uralte Greisin, anzusehen wie die Historie in Person, immerzu überholt von hupenden Autobussen. Und dann, kurz darauf, zwei schlendernde Soldaten: zwei Schwarze – Leben ohne Zerfall, Gegenwart ohne Schaden, zwei Kinder der Zukunft …
Skizze
Heinrich Gottlieb Schinz, Rechtsanwalt, Vater von vier gesunden Kindern, deren ältestes sich bald verheiratet, ist sechsundfünfzig Jahre alt, als ihm eines Tages, wie er es nennt, der Geist begegnet … Schinz, wie der Name schon sagt, ist Sohn aus gutem Haus; das Verlangen, dem Geist zu begegnen, hat er schon als Jüngling; er spielt Klavier und macht mehrere Reisen als Student. Paris, Rom, Florenz, Sizilien. Später London, Berlin, München, wo er ein Jahr verbringt. Er schwankt zwischen Kunstgeschichte und Naturwissenschaft; sein Beruf als Rechtsanwalt, teilweise eine Entscheidung seines Vaters, der ebenfalls ein namhafter Rechtsanwalt gewesen ist, bringt ihm bald die üblichen Erfolge, Ehe und Ehrenämter, darunter auch solche von wirklicher, von mehr als gesellschaftlicher Bedeutung: Winterhilfe, Denkmalpflege, Umschulung für Flüchtlinge, Kunstverein und so weiter … Seine Begegnung mit dem Geist ist keineswegs unbemerkt geblieben, einige Wochen gehört sie sogar zum Gespräch in den Straßenbahnen; die Außenwelt, sofern man eine mittelgroße Stadt so bezeichnen will, sieht es allerdings als klinischen Fall, rätselhaft auch so, aufsehenerregend auch so, erschütternd auch so, aber für die Außenwelt ohne jede Folge.
Eines Sonntagmorgens, es schneit, ist Schinz, wie er das seit Jahren zu tun pflegt, in den Wald gegangen, begleitet von seinem Hund, gesundheitshalber. Aufgewachsen in dieser Gegend, wo schon das großväterliche Haus gestanden hat, kennt er den Wald wie sein Leben. Auch der Hund kennt ihn; eine Dogge. Sein Erstaunen, als die vertraute Lichtung sich nicht einstellt, ist nichtgering, aber durchaus gelassen. Eine Weile bleibt er einfach stehen, ebenso der Hund mit schwitzender Zunge; es schneit, aber nicht so mächtig, daß Schinz deswegen den Weg verfehlt hat. Der Weg ist durchaus sichtbar, nur die Lichtung nicht. Die Dogge muß sich gedulden, bis Schinz sich ein Zigarillo angezündet hat; wie er das gerne macht in Augenblicken, wo er nicht weiter weiß, sei es als Rechtsanwalt oder früher als Major. Ein Zigarillo gibt Ruhe. Es ist jederzeit möglich, daß Bäume verschwinden, ganze Gruppen, ein halber Wald; aber daß eine Lichtung verschwindet, ist nicht anzunehmen. Das kommt, sagt sich Schinz, allenfalls in der Poesie vor; wenn ein Dichter dartun möchte, daß auf märchenhafte Weise viel Zeit vergangen ist oder etwas dieser Art. Schinz ist belesen. Weitergehend, um die Dogge nicht länger warten zu lassen, denkt er so das eine und andere, sein Zigarillo rauchend; irgendwann wird die verdammte Lichtung schon kommen. Auch er hat sich einmal in der Poesie versucht; kein Grund, deswegen zu
Weitere Kostenlose Bücher