Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
lächeln. Wie gesagt: das Verlangen, dem Geist zu begegnen, hat er schon als Jüngling gekannt. Dann die Zeit mit der Naturwissenschaft; eine schöne Zeit, Schinz denkt gerne daran, Mikroskop und so. Das eine und andere ist auch geblieben, nicht bloß gewisse Kenntnisse, die etwas verwischt sein mögen, aber eine gewisse Art, den Kindern zu zeigen, wie das Holz aussieht unter der Lupe, und zu erklären, wieso das Wasser von den Wurzeln emporsteigt in die Zweige. Doch all dies hören die Kinder jetzt in der Schule; Schinz hat die Lupe, auch wenn er allein ist. Und dann die Kunstgeschichte bei Wölfflin; damals in München. Auch eine gute Zeit, Schinz denkt gerne daran; im Kunstverein ist er zuweilen der einzige, der nicht faselt; das hat ihm der alte Wölfflin mit einer einzigen Blamage beigebracht, und kurz darauf hat er auch die Kunstgeschichte verlassen. Das eine und andere ist dennoch geblieben; Dürer und so. Die Welt, wenn man eine mittelgroße Stadt so bezeichnen will, hat wohl nicht unrecht, wenn sie Heinrich Gottlieb Schinz als einen geistigen Menschen betrachtet: obschon er seinerseits, das ist bemerkenswert, nie von Geist redet; er meidet dieses Wort, als hasse er es, umgeht es auf alle Arten, oft auf sehr witzige Art,als wäre es etwas Unanständiges, mindestens ist er in seiner Gegend sehr zurückhaltend, im Grunde nicht ohne Ahnung, daß der Geist, der wirkliche, etwas durchaus Fürchterliches ist, etwas Erdbebenhaftes, das man nicht rufen soll, etwas Katastrophales, das alles Vorhandene über den Haufen wirft, etwas Tödliches, wenn man ihm nicht durch außerordentliche Gaben gewachsen ist –.
Die Lichtung ist nicht gekommen.
Fünf Uhr abends, und Schinz ist zum Mittagessen erwartet worden, dämmert es, daß man bald überhaupt nichts mehr sieht. Schinz sitzt auf einem gefällten Stamm, froh, Spuren menschlicher Arbeit zu sehen; ein gewisses Bangen hat ihn doch beschlichen. Vor ihm die Dogge, keuchend, irgendwie entsetzt und verwirrt. Wie die Hunde vor einem Erdbeben! denkt Schinz. Zigarillos hat er keine mehr. Es schneit ohne Unterlaß. Stille; das Keuchen der Dogge, das nur dazu da ist, daß die Stille zwischen den Stämmen noch dichter wird. Einmal fällt Schnee von einer Tanne, ganz in der Nähe, aber lautlos. So muß es sein, wenn man taub ist. Dann macht Schinz, was bei belesenen Leuten vorkommt: er leistet sich den Witz, seine Lage literarisch zu sehen; die Dämmerung, die unfaßbare Zeit, die Stille zwischen den Stämmen, die Dogge, das alles ist sehr poetisch, irgendwie bekannt, und auch die Angst, plötzlich taub zu sein, ist nicht ohne Hintergründiges. Schinz ist sehr bewußt; er pfeift nicht, aber der kleine Witz, seine Lage literarisch zu nehmen, ist nichts anderes, als wenn ein Junge in den Keller gehen muß und dazu pfeift. Auch das ist ihm bewußt. Er schlägt den nassen Schnee von seinem Hut, entschlossen, aufzustehen und weiterzugehen. Wohin? Die Dogge sieht, wie der Herr einen gebrochenen Ast nimmt, einen Knebel; sie winselt vor Hoffnung, der Herr werde ihn werfen, sie läuft umsonst. Einmal, ganz unwillkürlich, schlägt er mit dem Knebel gegen einen Stamm. Nicht aus Angst, taub zu sein! Nur so. Wie es hallt: dumpf, fast ohne Ton, obschon er immer kräftiger schlägt, bis der Knebel zerbricht. Einen Ton, der wirklich trägt, hat es nicht gegeben. Das macht natürlich der Schnee. Alles wie Watte. Wieso sollte ein Mensch plötzlichtaub werden? Er nimmt die Dogge an die Leine. Es gibt nichts als Gehen. Und vor allem sagt sich Schinz: Nicht sich selber verrückt machen. Das hat schon gar keinen Sinn. Jeder Wald hat irgendwo ein Ende! Und im übrigen sind sie immer noch auf einem Weg, Schinz und die Dogge, deren Knurren ihm anzeigt, daß jemand kommt. Von hinten. Nur jetzt nicht denken: Das ist der Geist. Die Dogge bellt, so daß er die Leine schon kräftiger fassen muß. Ein Mann im Lodenmantel, vielleicht ein Förster, ein Holzfäller, ein Naturfreund und Sonntagsgänger, der die Menge meidet, überholt ihn –
»Erlauben Sie«, sagt Schinz –
Obschon ihm der Schweiß auf der Stirn steht, ist er ganz ruhig, froh, seine eigene Stimme zu hören, die nach dem Weg in die Stadt fragt; dabei muß er die bellende Dogge halten, ist nicht imstande, den Fremden näher anzusehen.
»Sie haben sich verirrt?«
»Ja«, lacht Schinz: »das ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen –.«
Schinz hört selber, wie ungeheuerlich das tönt: ein Mensch, der sich in seinem Leben noch nie
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