Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Reben, glimmert der See. Die Sonne verrostet schon im Dunste des mittleren Nachmittags, und dann der Heimweg ohne Mantel, die Hände in den Hosentaschen, das feuchte Laub, das nicht mehrrascheln will, die Gehöfte mit einer Trotte, die tropfenden Fässer in der Dämmerung, die roten Laternen einer Schifflände im Nebel –.
Entwurf eines Briefes
Sie schreiben mir als Deutscher, als junger Obergefreiter, der vor Stalingrad war, und Sie schreiben sehr höhnisch; es empört Sie, daß ein Ausländer, ein verschonter, vom Tod schreibt.
Was kann ich Ihnen antworten?
Sie haben nämlich recht, ich habe nie gesehen, wie ein Soldat fällt, und es fehlte denn auch, wie Sie aus dem kleinen Vorwort wissen, nicht an eigenen Bedenken, ob uns eine Aussage überhaupt anstehe. Als kleiner Bub mußte ich meiner Großmutter eine Nelke in den offenen Sarg legen, es war mir widerlich, und schon größeren Eindruck machte mir ein sterbendes Pferd, das einmal vor unserem Hause lag; später dann, als ich Ihres Alters war, stand ich vor dem verzinkten Sarg einer jungen Frau, die ich liebte, übrigens war es eine Deutsche, und die Erinnerung an sie, der ich so viel verdanke, hat mich oft gesondert, wenn man die Deutschen haßt. Das alles und vieles andere, ich gebe es zu, war nur ein Anblick des Todes, oder wie Sie sehr spöttisch sagen, ein bloßes Schauspiel. Ich frage mich, was es ändern würde, wenn ich sehen könnte, wie ein Soldat fällt; für mich, der ich ihn überlebe, wäre es wiederum nur ein Anblick, und ich hätte, wie Sie mir beweisen, abermals nichts erlebt. Einmal stand ich vor einem Kinderbett und vor einem ganz kleinen Kind, das über Nacht erstickt war, und draußen war es ein herrlicher Morgen, während ich die junge Mutter halten mußte, die immer wieder versuchte, ob sich die bläulichen Ärmchen nicht wecken lassen. Oder wir standen an einem friedlichen Bahnhof, schöpften Tee und gaben ihn den Skeletten, die damals gerade aus deutschen Lagern kamen; man konnte darauf warten, daß ihnen der laue Tee, den sie nicht mehr halten konnten, sofort wieder zum After hinauslief, und es ließe sich noch vieles erzählen, was ich für einErlebnis hielt. Doch es änderte nichts daran, daß Sie irgendwie recht haben. Es gibt noch eine andere Seite des Todes, eine ungewöhnliche, die nur der Krieg zeigt: ich habe noch niemals schießen müssen, und vielleicht liegt darin das Entscheidende, was Sie erlebt haben, was Sie anders erlebt haben –
Warum sprechen Sie nicht davon?
»Die einzigen, die uns raten und helfen können, werden letzten Endes nur wir selber sein. Die Erfahrungen haben uns gelehrt. Ich glaube, daß wir, die diese Erlebnisse hinter uns haben, eher dem Ausland helfen können als umgekehrt, ausgenommen vielleicht in materieller Hinsicht.«
Dennoch bitten Sie um eine Antwort, und je öfter ich Ihren leidenschaftlichen Brief lese, der mich bald eine Woche beschäftigt, um so ratloser bin ich; das alles haben Sie in bitterer Kälte geschrieben, hungrig, und ich sitze in einer kleinen warmen Dachstube; Sie sind für mich der junge Deutsche, und ich bin für Sie das bekannte Ausland, und Sie antworten auf Vorwürfe, die ich nicht erhoben habe:
»Es ist nicht wahr, daß das deutsche Volk all diese abscheulichen Dinge kannte, wie das Ausland meint, wohl hat mancher Vereinzelte um solche Erschießungen gewußt oder sie als Soldat selber mitgemacht, aber alle seine Kameraden, alle seine Freunde, seine Eltern und Bekannten wußten nichts davon und waren fürchterlich entsetzt, wenn ihnen davon berichtet wurde; nur die wenigsten schenkten solchen Berichten überhaupt Glauben –.«
Wenn Sie solche Sätze wiederlesen, haben Sie nicht selber den Eindruck, daß Sie im Kreise herumschlagen, daß Sie sich immerzu wehren und nicht wissen, wogegen Sie sich eigentlich wehren, und daß es wahrscheinlich genügen würde, wenn Sie selber es wüßten. Was Sie zuvor über Rat und Hilfe sagten, glaube ich auch, wenigstens zum Teil; das Stück (»Nun singen sie wieder«) ist nicht aus der vermessenen Absicht entstanden, dem deutschen Volk zu raten, sondern einfach aus dem Bedürfnis, eine eigene Bedrängnis loszuwerden.
»Was Ihr alter Pope über die Liebe sagt: sie sei schön, dennsie wisse, daß sie umsonst sei, und dennoch verzweifle sie nicht – woher wissen Sie das?«
Ich weiß es nicht.
Eine Deutung, die jemand versucht, ist kein Befehl, daß Sie sich dieser Deutung unterwerfen müssen. Ich werde mich auch der Ihren nicht
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