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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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es schon wegen der Farbe ihres Haares nicht stimmen. Und es war auch nicht Anja; ganz eindeutig nicht. Es war eine Fremde, eine junge Schwangere, mit offenen Augen, und ich weiß nicht, wie ich in die Karosse kam. Wir verließen die Stadt, während die Glocken läuteten, und wieder fuhren wir über Kolin, hatten einen herbstlichen Tag, wie er zum Reisen nicht schöner hätte sein können; ich wußte genau, daß unsere Sache übel stand –
    Gestern erklärten sie den Krieg.
    Ich übernehme ein Regiment der Herzoglichen Husaren, lauter junge und verwegene Burschen, die ihr Vaterland über alles lieben; in einer Stunde, beim ersten Morgengrauen, verlassen wir die Residenz –
     
    Ich glaube nicht, daß es anders gekommen wäre, auch wenn ich die Botschaft, die ich später in meiner rechten Brusttasche fand, hätte auf den Tisch legen können; zweimal las ich ihren Inhalt,bevor ich sie heimlich in einem Kamin verbrannte; sie enthielt nichts, was ich nicht aus eignem Munde sagte, nichts, was die böhmische Krone hätte hindern können; der liebe Gott – ich mußte fast lachen, als ich es las – was kann er uns helfen gegenüber einer Exzellenz, die auch nicht an ihn glaubt?

Café Odeon
    Diskussion mit der Studentenschaft beider Hochschulen. Der Waagsaal erweist sich als viel zu klein, so daß wir dann durch die Stadt ziehen, um uns in einem größeren Lokal niederzulassen zu Verhör und Gericht, und ich will nicht verhehlen, daß mich solcher Zustrom, gleichviel was folgt, als Zeichen von Interesse ebenso überrascht wie erfreut. Auch die Studenten, zeigt sich bald, erwarten von einem Schauspiel, daß es eine Lösung liefere. Das kommt immer wieder; Bedürfnis nach Führung. Und wenn man eine liefern würde? Zum Beispiel: Geht hin und verschenkt, was ihr besitzt, verzichtet auf eure Vorrechte, zieht hinaus und tut, wie Franziskus getan hat. Was würde geschehen? Nichts. Was wäre gewonnen? Man wüßte: der Autor ist offenbar ein Christ. Schön von ihm; im übrigen ist das natürlich seine Sache. Und in der Tat, das ist es auch! Die Lösung ist immer unsere Sache, meine Sache, eure Sache.
    Henrik Ibsen sagte:
    »Zu fragen bin ich da, nicht zu antworten.«
    Als Stückschreiber hielte ich meine Aufgabe für durchaus erfüllt, wenn es einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermaßen zu stellen, daß die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können – ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können.
     
    Das allgemeine Verlangen nach einer Antwort, einer allgemeinen, das oft so vorwurfsvoll, oft so rührend ertönt, vielleicht ist es doch nicht so ehrlich, wie der Verlangende selber meint. Jede menschliche Antwort, sobald sie über die persönliche Antworthinausgeht und sich eine allgemeine Gültigkeit anmaßt, wird anfechtbar sein, das wissen wir, und die Befriedigung, die wir im Widerlegen fremder Antworten finden, besteht dann darin, daß wir darüber wenigstens die Frage vergessen, die uns belästigt – das würde heißen: wir wollen gar keine Antwort, sondern wir wollen die Frage vergessen.
    Um nicht verantwortlich zu werden.

Pfannenstiel
    Noch einmal eine Reihe von goldenen Tagen, die letzten des Jahres. Die Morgen, wenn ich mit dem Rad an die Arbeit fahre, sind kalt und feucht, das Laub klebt auf den Straßen, der See ist silbergrau, und man sieht nur die Bojen, die im Uferlosen schweben, einsam und ohne Boote, spiegellos, und die weißen Möwen auf dem Geländer. Meistens um elf Uhr, wenn auch die Glocken läuten, entscheidet es sich. Noch findet man keinen Schatten, der die Sonne verrät; aber man spürt sie; es blinken die Zifferblätter an den Münstern. Der Nebel, wenn man gegen den Himmel schaut, flimmert wie bronzener Staub; plötzlich gibt es nur noch die Bläue; plötzlich ein Streifen zager Sonne, der über das Reißbrett fällt –
    Noch einmal ist alles da: der Most und die Wespen, die in der Flasche brummen, die Schatten im Kies, die goldene Stille der Vergängnis, die alles verzaubert, die gackernden Hühner in der Wiese, das Gewimmel der braunen Birnen, die auf der Landstraße liegen, die Astern, die über einen Eisenzaun hangen, Sterne eines blutigen Feuers, das ringsum verrinnt, die bläuliche Luft unter den Bäumen; es ist, als nehme alles Abschied von sich selbst; das rieselnde Laub einer Pappel, der metallische Hauch auf dem gefallenen Obst, der Rauch von den Feldern, wo sie die Stauden verbrennen. Drunten, hinter einem Gitter von

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