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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Gitterwerk, das sich minutenlang hinzieht; es sind lauter verbrannte Eisenbahnwagen, ein Gestrüpp von rotem Rost. Später öffnen wir das Fenster im Korridor; wir sind in Pforzheim, wo man kaum noch ein Dach sieht, nichts als verzackte Mauern, Ruinen voll Schnee. Irgendwo raucht es aus einem Keller, und Kinder stehen auf einer verschneiten Straße, blicken zu uns. Constanze fährt zum erstenmal durch Deutschland; sie schüttelt den Kopf, als sie das sieht:
    »Vollkommen kaputt –.«
    Ein Sieger, ein junger Offizier, der gerade durch den Korridor kommt und in den Speisewagen will, blickt sie an:
    »Gott sei Dank, Madame –«.

An Maja
    Du bist eine Frau, vielleicht ein Mädchen, und im stillen fragst du manchmal, was ich möchte; einen ganzen Nachmittag sind wir gewandert, zu weit für deine schmalen Schuhe, und gesprochen haben wir nichts Besonderes. Du gabst deine Hand, während wir die Hänge hinuntergingen; wir sagen uns du, und am andern Morgen erwache ich, wie man am Meer erwacht. Meine Hand bleibt voll von der deinen. Aber nimm es nicht schwer; kein Brief soll dich rufen, wenn du gehst. Du bist jung, und ich bin froh, daß es dich gibt. Die Erde, die du betreten hast, ist wieder eine Erde zum Wandern, und alles Vorhandene bist du. Ich sehe die blühenden Zweige, die du vom Baume brichst, und ich sehe die Hunde, die nach deinen Steinen springen. Die Früchte, die du zum Munde nimmst, das alles ist rund und vorhanden und voll, wie deine Stirne voll ist und jung und ohne Durchsicht; du bist die Gegenwart hinter allem. Es ist, als blühen die Felder aus dir, hier, wo du noch nie gegangen bist, und die Luft ist voll Glanz deiner Augen. Ich möchte erzählen können, was alles ich sehe, die Landschaft mit Kiefern und Ulmen und fremden Giebeln darin, mit Flüssen und endlosen Wäldern und Schlössern,deren Fenster in der Abendsonne blinken, mit Brücken und Trümmern von Brücken, mit Domen, die aus zerstörten Städten steigen. Du bist es, was die Bilder hält, die Farben vor der Nacht, und alles Licht, das die Sonne vergeudet, es fiele ins Finstere, wenn es nichts gäbe, was man liebt –

Prag, März 1947
    Ich wußte nicht, daß Theresienstadt, das wir gestern auf unsrer Durchreise besucht haben, eine alte historische Anlage war, benannt nach Maria Theresia. Um das ganze Städtlein ziehen sich die hohen und schweren Wälle aus rötlichem Ziegelstein, ebenso ein breiter Graben mit allerlei Unkraut und Wasser, das in braunen Tümpeln versumpft. Außerhalb der kleinen Stadt, die als Ghetto diente, befindet sich das Fort; das eigentliche Todeslager. Eine schöne und alte Allee verbindet die beiden Anlagen; daneben ein Feld von hölzernen Kreuzen, die man später gemacht hat. Im ersten Hof, wo die deutschen Mannschaften wohnten, gibt es noch Bäume; es war ein warmer und märzlicher Tag, es zwitscherten die Vögel, und auf den rötlichen Wällen, die uns plötzlich von aller Umwelt trennen und von aller Landschaft, wippen die einzelnen Halme, die letzte Natur. Über dem inneren Hof, wo nun die Häftlinge waren, thront ein Häuslein mit Scheinwerfer und Maschinengewehr; die Zellen reihen sich wie Waben; sie sind aus Beton; die Pritschen darin erinnern an Flaschengestelle, und am Ende dieses Hofes, wo wir die Kugellöcher bemerken, fanden jene besonderen Hinrichtungen statt, denen sämtliche Häftlinge beizuwohnen hatten. Das Ganze, so wie es sich heute zeigt, vermischt die Merkmale einer Kaserne, einer Hühnerfarm, einer Fabrik und eines Schlachthofes. Immer weitere Höfe schließen sich an. Durch das sogenannte Todestor, eine Art von Tunnel, kommen wir zu einem Massengrab von siebenhundert Menschen; später benutzte man die Öfen einer nahen Ziegelei. Hier steht der Galgen, ein einfacher Balken mit zwei Haken, wo die Häftlinge sich selber den Strick einhängenmußten, und darunter zwei hölzerne Treppenböcke. Auch hier sehen wir nichts als die rötlichen Wälle, die wippenden Halme darauf. Unweit von dem Galgen, dessen einfache Machart fast lächerlich ist, befindet sich der Platz für die reihenweisen Erschießungen; vorne ein Wassergraben, der die Schützen und die Opfer trennt, und hinten eine gewöhnliche Faschine, damit die Erde, welche die Kugeln fängt, nicht mit der Zeit herunterrutscht. Es ist Platz für zehn oder zwölf Menschen. In einer Deckung, wie wir sie als Zeigermannschaft in einem Feldschießen kennen, befand sich der sogenannte Leichentrupp, ein Grüpplein von Juden, welche die Erschossenen

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