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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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abräumen, nötigenfalls für ihren gänzlichen Tod sorgen mußten. Wir gehen weiter; jenseits des Walles, aber immer noch inmitten unseres Lagers, stehen wir plötzlich vor einem tadellosen Schwimmerbecken, und an der Böschung jenes Walles, dessen Gegenseite wir eben betrachtet haben, gibt es sogar ein Alpinum, ein Gärtlein mit schönen Steinen und Pflanzen, das heute allerdings verwildert ist; hier haben die deutschen Wachen ihre sommerliche Freizeit verbracht zusammen mit ihren Frauen und Kindern. In dem nächsten Hof, wo die Häftlinge zu jeder Führerrede antreten mußten, sind es einmal nicht die rötlichen Wälle, die uns umgeben, sondern alte Stallungen. Eine davon betreten wir. Hier war die Folterkammer. Im steinernen Boden sind zwei eiserne Ringe verschmiedet, an der Decke ist ein Flaschenzug, und genau darunter, eingelassen in der steinernen Bodenplatte, befindet sich ein eiserner Dorn in der Größe eines Zeigefingers. Es ist ein Raum mit alten Gewölben, und zwischen den Pfeilern hängt ein Vorhang aus dünnem Sacktuch, ein Schleier, der die Zuschauer verbarg. Indem wir auf der andern Seite aus der Stallung hinausgehen, stehen wir auf einer Brücke, also wieder im Freien, und blicken in den sogenannten Judengraben. Zwischen zwei besonders hohen Wällen, so daß man wieder nur den Himmel sieht und nichts als den Himmel, befindet sich ein Kanal mit grünem Wasser, ein Wiesenbord zu beiden Seiten. Ferner ist noch eine hölzerne Leiter da. Zehn Juden wurden hinuntergeschickt, versehen mit Heugabeln und mit dem Versprechen, daß die beidenletzten, die ihre Kameraden überlebten, in die Freiheit entlassen würden. Von der eisernen Brücke, wo die Zuschauer standen, blickt man wie in einen Bärenzwinger. Die Freiheit für die beiden Letzten, sagt uns ein begleitender Insasse, bestand in einem Genickschuß. Endlich kommen wir an den letzten Ort. Wir stehen vor den Urnen. Es ist das erstemal, daß ich die menschliche Asche sehe; sie ist grau, aber voll kleiner Knöchelchen, die gelblich sind. Die Urnen sind aus Sperrholz, neuerdings, während das deutsche Modell, das wir in die Hand bekommen, einfacher und sparsamer war, eine Düte aus starkem Papier, jede mit einer handschriftlichen Nummer versehen, wenn sie gefüllt ist. Das Lager von Terezin, als es befreit wurde, hatte einen Vorrat von zwanzigtausend solchen Düten. Natürlich nehmen wir den Hut in die Hand, aber ich würde lügen, wenn ich von Erschütterungen spräche; der Anblick dieser Urnen, die man öffnen kann, verbindet sich mit nichts; sie reihen sich wie Büchsen in einer Drogerie, sie reihen sich wie Töpfe in einer Gärtnerei. Was mich an diesem Ort am meisten beschäftigte, waren die beiden Bildnisse, die über den namenlosen Urnen hingen: Benesch und Stalin.
    Der Tag geht weiter.
    Wir fuhren nach Leitmeritz, wo wir einen Imbiß nahmen, und in einer Amtsstube, die uns wieder die gleichen Bildnisse zeigt, lassen wir uns unterrichten, warum man die Sudetendeutschen, insgesamt drei Millionen, aus dem Lande verschickt hat und was mit ihren Häusern geschieht, mit ihren Feldern. Man zeigt uns die Pläne. Vor allem aber bleibt es die Amtsstube, die mich bedrückt wie alle Amtsstuben der Welt. Tod oder Hochzeit oder Geburt, was spielt es für eine Rolle; was gilt es für den Staat, der nicht ein Mensch ist und dennoch mit einer behaarten Menschenhand arbeitet? Ich sehe die wechselnden Bildnisse an der Wand, die Kaiser und Feldherren und Erlöser, die dem Staat, damit es nicht bei der behaarten Hand bleibe, ein menschliches Gesicht leihen wollen, und dennoch bleibt alles Menschliche, was man in solchen Amtsstuben vorzubringen hat, unwirklich wie die gelbliche Asche, die wir eben gesehen haben; man fühlt sich beklommen noch da, wo man nichts will. Die Pläne, die man aufdem Tisch entrollt, sind voll Vernunft und Willen, daß alles besser wird. Während wir jedesmal auf die französische Übersetzung warten, denke ich an die Flüchtlinge in Frankfurt, damals vor einem Jahr; ich denke an den Waggon in München, der bei der Ankunft, als man ihn öffnete, einfach voll Tod war, und ich denke an die beiden Ringe im steinernen Boden, an den Flaschenzug, an den eisernen Dorn; auch daran. Es ist wichtig, daß man vieles zusammensieht. Da ich nichts sage, vielleicht erscheint es wie Mißtrauen, was nur Besorgnis ist; es täte mir leid; von Herzen wünsche ich dem arbeitsamen Mann, daß der Rotstift, womit er auf seiner Landkarte zeichnet, nicht das Blut seiner

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