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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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ist, nicht verändern kann; also müssen wir vor allem die Welt verändern, die äußere, damit der Mensch, der ihnen als Erzeugnis dieser äußeren Welt erscheint, sich seinerseits erneuern kann. Ihnen geht es um die Entdeckung einer neuen Wirtschaft; der neue Geist, sagen sie, folgt in dem Augenblick, wo er möglich wird, und sie glauben so gänzlich daran, so zweifellos, daß sie bereit sind, die Veränderung der äußeren Ordnung, die den Menschen befreien soll, allenfalls mit Gewalt herzustellen. Damit kommen wir dann jedesmal auf die andere Grundfrage. Gibt es einenZweck, – der unsere Mittel heiligen kann? Darf ich die anderen fesseln und allenfalls töten, die verhindern wollen, was mir als das Heil erscheint? Errichte ich damit das Heil, das ich sonst nicht errichten kann? Ich kam in der Meinung, daß man darüber nicht mehr nachdenken müßte, und sehe, daß ich auch darüber zu wenig denken kann; sonst könnte ich sie überzeugen, zumal wir auch über das Ziel, das wir unsrer Veränderung setzen, durchaus einig sind. Wir wollen die Würde aller Menschen. Daran müssen wir uns immer wieder erinnern, damit unser Gespräch sich nicht verliert. Die Würde des Menschen, scheint mir, besteht in der Wahl. Das ist es, was den Menschen auch vom Tier unterscheidet; das Tier ist stets nur ein Ergebnis; das Tier kann nicht schuldig werden, so wenig wie es frei werden kann; das Tier tut stets, was es muß; und es weiß nicht, was es tut. Der Mensch kann es wissen, und sogar Gott, der Allmächtige, läßt ihm die Wahl, ob er seinen guten oder seinen bösen Engeln folgen will; weil Gott uns nicht als Tiere will. Erst aus der möglichen Wahl gibt sich die Verantwortung; die Schuld oder die Freiheit; die menschliche Würde, die man manchmal gerne für das leichtere Dasein einer Möwe gäbe. Meine Freunde sagen: Es geht um die Freiheit. Und damit meinen sie wohl das gleiche; die Freiheit als einen Teil der Würde. Warum verneinen wir gemeinsam die wirtschaftliche Ordnung, die herrschende? Weil sie einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen oder der Mehrzahl aller Menschen schlechterdings keine Wahl läßt; weil sie gegen die Würde des Menschen verstößt. Das Tierische liegt nicht allein in der Not, wo sie sich als Armut darstellt und sichtbar wird, indem einer in schlechten Schuhen gehen muß oder sogar barfuß; das ist bitter. Aber das Bittere ist nicht der leibliche Schmerz. Niemand wird im Ernst annehmen, daß diese äußeren Dinge nicht wichtig sind für den Geist; sie sind ein Zwang, eine Verhinderung. Der Hungernde hat keine Wahl. Sein Geist kommt nicht, woher er will, sondern er kommt aus dem Hunger. Aber es braucht nicht einmal den Hunger, um die herrschende Ordnung anzuklagen. Wenn der Vater ein gerechter Arbeiter ist und der Sohn wieder ein Arbeiter werden muß, weil man sichandere Versuche einfach nicht leisten kann, so liegt das Unwürdige nicht in der Arbeit, nicht in der Art der Arbeit, sondern darin, daß der Sohn überhaupt keine Wahl hat. Woher soll er die Verantwortung nehmen gegenüber einer Gesellschaft, deren wirtschaftliche Ordnung ihn vergewaltigt? Er ist ein Opfer, auch wenn er keinen Hunger leidet. Er wird nicht, was er werden kann, und niemals wird er wissen, was er kann; vielleicht kann er wirklich nichts anderes. Wie kann man es entscheiden, bevor man ihn prüft? Andere können werden, was sie sind, manchmal sogar mehr: weil das Können so selten ist, weil Millionen von Geburten vergeudet werden. Darum möchten wir eine Ordnung, die niemanden der Wahl beraubt, und meine Freunde glauben allerdings, daß sie den Entwurf einer solchen Ordnung haben; vieles an ihrem Entwurf ist begeisternd, und wenn wir vom Ziel sprechen, sind wir immer wieder einig. Wenn aber dieses Streben, daß alle in ganzen Schuhen gehen und daß keiner durch die wirtschaftliche Ordnung gezwungen und somit um die Wahl und somit um die Würde betrogen wird; wenn dieses große und unerläßliche Streben dazu führen sollte, daß man es mit einem Staat versucht, der meinem Denken fortan keine Wahl mehr läßt, was haben wir erreicht? Wir hätten das Mittel verwirklicht, nicht das Ziel. Die Würde des Menschen, wie wir dieses Ziel nennen, ist die Wahl; nicht die Badewanne, die der Staat ihm liefert, wenn er nicht am Staate zweifelt. Wie soll ich glauben können, wenn man mir keine Wahl läßt? Allein die Gewalt, die mir den Zweifel verbietet, nimmt mir den Glauben noch da, wo ich ihn schon hatte –
    Frage:
    »Dürfen wir

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