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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Söhne bedeutet –.
    Was am meisten bleibt, wenn ich an das Lager denke, und was gleichsam immer näher kommt, während man es an Ort und Stelle kaum bemerkte, jedenfalls nicht mehr als alles andere: die wippenden Halme auf den rötlichen Wällen, und daß man überall, wo immer wir standen, nichts als den Himmel sieht.

Prag
    Gestern die Aufführung in tschechischer Sprache. Ich verstehe natürlich kein Wort, ich sehe die Gänge, den Wechsel der Gruppen, alles als Pantomime, ich sehe Farbe, Gestalt und Gebärde, Bewegung, alle Arten sinnlichen Ausdruckes, den das Theater nur haben kann, dazu höre ich eine Sprache sozusagen ohne Wörter, Sprache als Klang, als Rhythmus – das Entscheidende eines Stückes: wer tritt wem gegenüber, wer geht weg, wer kommt hinzu, wer kehrt zurück und so weiter, all dies wird plötzlich ganz offenkundig, lesbar wie ein Röntgenbild.
    Morgen eine öffentliche Diskussion; ich werde deutsch sprechen, was den Veranstaltern einige Sorge bereitet. Ihr Haß gegen diese Sprache. Es ist aber, das sehen sie ein, auch eine Sprache unseres Landes, so gut wie Französisch oder Italienisch, und unmöglich, dem Haß gegen eine Sprache, welche auch immer, rechtzu geben – ohne denen recht zu geben, die wir in allen Sprachen und mit Recht hassen: den Nationalisten.
     
    Ein weiteres, was diese Aufführung für mich so erregend macht: die Sprache nicht als Sprache schlechthin, sondern als eine unter anderen. Napoleon und Brutus sprechen tschechisch, was ebenso drollig ist, wie wenn sie deutsch sprechen; aber hier wird es mir bewußt: wie selbstverständlich beides ist … Die besondere Sprache, die uns beschränkt und vereinsamt, und die Sprache in der Kunst, die immer zur Sprache schlechthin wird, zur menschheitlichen. Ich habe Macbeth gesehen: Englisch gedichtet, was wir deutsch empfinden, slawisch gesprochen, so daß ich kein Wort verstehe, nur bestürzt bin, wie geschwisterlich wir sind, oder bestürzt, wie oft man das vergißt.

Hradschin
    Die Möwen, die auf dem gleißenden Eis der Moldau sitzen; die steinernen Heiligen, die finster auf der langen Brücke stehen, und die Bläue eines kommenden Frühlings darum; die tropfenden Bäume überall; die Straßen mit schmelzendem Schnee, der in der Sonne blendet; die vermooste Mauer droben beim Hradschin, wo man die Beine baumeln läßt, vor sich die Weite voll grünlicher Kuppeln einer fremden Stadt: das alles war schon einmal. Vor dreizehn Jahren, als ich auf dieser Mauer saß und keine Ahnung hatte, wohin es weiterging, war es auch März; es war die erste fremde Stadt in meinem Leben, und wenn ich zum Spaß daran denke, daß ich alles, was diese dreizehn Jahre brachten, noch einmal leben müßte: der Reihe nach, so wie es war, ohne Verändern und ohne Überspringen, das Häßliche, das Holde, das Belanglose, so wie es war, genau so, nur ohne die Hoffnung auf das Ungewisse, die immer einen Schritt voranging –
    Wer möchte es? Wer könnte es?

Prag
    Unsere Abreise hat sich nochmals verschoben, da es wieder Morgen wurde über unserem Gespräch. Wir saßen mit den jungen Schauspielern in der Garderobe, wo es Kerzenlicht gab und schwarzen Kaffee, Lieder dazu, wie das Volk sie hierzulande singt, Lieder der Schwermut, Lieder der Leidenschaft, Lieder der Freude. Wir hatten noch einen Rest von guten Zigaretten; jemand brachte Wein, und eine Handorgel gab es hier auch. Einmal nach Mitternacht hörte man Schritte; es kam ein verschlafener Hauswart, der den Schein unsrer Kerze bemerkt hatte; er blickte über seinen Zwicker, nickte und verschwand. Die Bühne, wenn man gelegentlich hinausging, stand finster und leer, und in den hohen Gängen wimmelte es von fürstlichen Leuchtern, von Trommeln, die brummen, wenn man anstößt, oder man stolpert an marmorne Treppen und Säulen, die hohl sind; an den Wänden, die gerade in den tastenden Schein unsrer Taschenlampe kommen, blinkt es von Schwertern und Rüstungen; anderswo sind es Fahnen, die aus umrißloser Dämmerung herniederhangen, Fahnen unsrer ganzen abendländischen Geschichte.
    Verändern wollen wir alle – darin sind wir uns einig, und es geht jedesmal nur darum, wie die Veränderung möglich sein soll; es ist nicht die erste Nacht, die wir dieser Frage opfern. Die einen glauben, es bleibe uns nur noch die Entdeckung der menschlichen Seele, das Abenteuer der Wahrhaftigkeit, und sie sehen keine anderen Räume der Hoffnung. Die anderen dagegen sind überzeugt, daß sich der Mensch in dieser Welt, so wie sie

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