Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
annehmen, daß die Tyrannei sich in einen Segen verwandelt, wenn unsere eignen Hände nach ihr greifen?«
Antwort:
»Es handelt sich höchstens um einen Übergang.«
Frage:
»Kennen wir in der menschlichen Geschichte einen solchen Übergang, eine Tyrannei, die nicht in die Luft flog, sondern in natürlichem Wachstum sich als ihr Gegenteil entpuppte?«
Antwort:
»Darüber reden wir in hundert Jahren.«
Gelächter …
Nürnberg, März 1947
Kinder an den Bahndämmen, besonders wo die Züge wegen Zerstörungen etwas langsamer fahren; sie warten, daß wir etwas Eßbares hinauswerfen. Das Peinliche, es zu tun, wenn andere es sehen. Warum eigentlich? Auch Frauen, die an einer Barriere stehen oder auf freiem Feld; ohne Gebärde, stumm, graublaß und hager. Die Verlumpung erreicht einen Grad, den ich bisher nur in Serbien gesehen habe. Sechs Schienenarbeiter teilen sich in die Brote, die unsere tschechischen Freunde gestrichen haben. Wir sind froh, nichts mehr zu haben, nicht mehr unterscheiden zu müssen. Krach auf dem Bahnsteig; jemand hat Zigaretten geworfen. Der Jüngling, der sie gewinnt: Schwindsucht, Wehrmachtsmütze, Schwarzhandel, Faustrecht, Syphilis.
Zuhause
Ursel hat große Freude an der tschechischen Puppe, auch an dem Bilderbuch, das wir gebracht haben; daß die Kinder, die man auf den reizenden Bildern sieht, ganz anders reden und daß auch wir nicht lesen können, was geschrieben steht, läßt ihr keine Ruhe; seit zwei Tagen fragt sie immer wieder. Auch Peter, der kleinere, steht ganz unter dem Eindruck der Reise, die er nicht gemacht hat; er ist jetzt im Alter, da die Eisenbahn über alles geht, und kostet die Erfahrung, daß man in der Eisenbahn sogar schlafen kann, daß man sie überhaupt nicht mehr verlassen muß. Das meiste wissen sie schon aus den Briefen, die Constanze ihnen jedesmal zeichnet; nichts steht in diesen Bilderbriefen, was nicht stimmt, und jedesmal, wenn ich sie den Kindern wieder erklären muß, bin ich verblüfft, wieviel Lebenswertes auf unserem Wege war –.
Café de la Terrasse
Was auffällt, wenn man draußen gewesen ist: das Verkrampfte unsrer Landsleute, das Unfreie unseres Umganges, ihre Gesichter voll Fleiß und Unlust; nicht auszuhalten, wenn sie von ihrem bescheidenen Wesen reden; in Wahrheit, sobald gewisse Hemmungen fallen, zeigt sich das Gegenteil; es fehlt nicht an gestautem Ehrgeiz, der auf Weltmeisterschaften lauert, und in besseren Kreisen sind es Pestalozzi, Gotthelf, Burckhardt, Keller und andere Verstorbene, die man sich ins Knopfloch steckt; man erschrickt oft über sich selber, über die fast krankhafte Empfindlichkeit, wenn ein andrer nicht begeistert ist von uns. Irgendwie fehlt uns das natürliche Selbstvertrauen. Immer wieder auffallend ist die Art, wie sie mit ihren einheimischen Künstlern umgehen, wie sie ihnen auf die Schulter klopfen bestenfalls mit dem Ton einer warnenden Anerkennung, eine Aufmunterung, eine wirkliche, eine Erwartung, die nicht unter Bedenken röchelt, kommt meistens von einem Ausländer; zum Glück hatten wir in der Zeit, da wir die Türen schließen mußten, wenigstens die Emigranten im Haus. Dabei wäre die nüchterne Zurückhaltung unsrer Landsleute, wenn sie stimmt, geradezu wunderbar; was sie fragwürdig macht, ist der bedenkenlose Kniefall vor allem Fremden. Der erwähnte Mangel an Selbstvertrauen, der sich so und so verrät, macht unsere Künstler nicht bescheiden, was jedenfalls ein Gewinn wäre; sondern unsere Landsleute, wenn wir auf sie angewiesen sind, machen uns nur kleinmütig, und die unvermeidliche Kehrseite davon ist das Anmaßende, also wiederum eine Verkrampfung. Anderseits hat es auch wieder seinen Segen, wenn man einem Volk angehört, das seine Künstler niemals durch Verwöhnung verdirbt, und zwar ohne jede Ironie: der deutsche und vielleicht abendländische Irrtum, daß wir Kultur haben, wenn wir Sinfonien haben, ist hierzulande kaum möglich; der Künstler nicht als Statthalter der Kultur; er ist nur ein Glied unter anderen; Kultur als eine Sache des ganzen Volkes; wir erkennen sie nicht allein auf dem Bücherschrank und am Flügel, sondern ebensosehr in der Art, wie man seine Untergebenenbehandelt. Sofern man Kultur in diesem Sinne meint, der mir der zukünftige scheint, müßten wir in keiner Weise erschrecken, wenn sie uns gelegentlich einen Anachronismus nennen; ich meine weniger die Verwirklichung, sondern die Idee der Schweiz, die ich vor allem liebe, und wenn ich noch einmal aus freien Stücken
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