Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
liegt nicht innerhalb seiner Rede, sondern zwischen seiner Rede und unsrer Wahrnehmung. Selbstvertrauen ist nicht komisch, Stolpern ist nicht komisch; nur beides zusammen. Das Unvereinbare, das Unverhältnismäßige, was zum Wesen aller Komik gehört, verteilt auf das Wort undauf das Bild: das im besonderen als theatralische Komik – vom Plumpen bis zum Feinen, vom Clown bis zum Shakespeare: Wir hören, wie selig und zärtlich die Imaginationen der verliebten Titania sind, wir hören ihre herrlichen Worte, die alles andere als Witze sind, und lächeln von Herzen, denn wir sehen zugleich, wie sie mit eben diesen süßen Worten, die auch uns verzücken, nichts als einen Eselskopf kost – wir sehen.
     
    Das Überwältigende bei Shakespeare, wie die Situation (wer steht wem gegenüber) meistens schon als solche gedichtet ist, bedeutend schon als Situation, so daß dem Text nichts anderes übrig bleibt als das Schönste: zu ernten, zu pflücken, zu eröffnen, was an Bedeutung schon da ist.
    Wer steht wem gegenüber.
    Schon die Schreibweise klassischer Stücke deutet darauf hin, wie hauptsächlich diese Frage ist; schon im Buch wird jeder Auftritt vermerkt, sonst fast nichts. Zehnter Auftritt: Der König, die zwei Mörder. Das ist das Wahrnehmbare, wenn der Vorhang sich hebt, und wenn die zwei Mörder ihren Auftrag haben, so daß sie den König allein lassen, ändert sich das Wahrnehmbare; jeder Auftritt ist eine Zäsur. Der König allein! Wenn er jetzt etwas spricht, was die Last seines zunehmenden Alleinseins verrät, hat es die ganze Bühne für sich, die Leere der Bühne – Kongruenz zwischen der äußeren und inneren Situation; eine andere theatralische Erfüllung ist der Kontrapunkt: – Macbeth erlebt die Last seines schuldigen Alleinseins während einer festlichen Gesellschaft, er allein erblickt den Geist des Ermordeten, sein Alleinsein wird dermaßen augenscheinlich, daß all seine Worte, die gesellig sein möchten, ohnmächtig sind, die Gesellschaft verschwindet, es bleiben Macbeth und seine Mitwisserin, die beiden Schuldigen; wieder ist der ganze innere Vorgang einer Szene bereits im Sichtbaren umrissen, der Geist des Ermordeten spricht kein Wort – das heißt: ich schaue nicht umsonst auf die Bühne.
     
    Im zweiten Stück von Friedrich Dürrenmatt (ein Name, den man auch in Deutschland noch kennenlernen wird) gibt es folgendeSzene: Ein Blinder, der die Zerstörung seines Herzogtums nicht wahrgenommen hat, glaubt, er lebe immer noch in seiner festen Burg. In seinem Glauben, in seiner Einbildung verwaltet er ein heiles und verschontes Land. So sitzt er inmitten von Ruinen, die er als Blinder ja nicht sehen kann, umringt von allerlei wüstem Gesindel des Krieges, von Söldnern, Dirnen, Räubern, Zuhältern, die nun den blinden Herzog, seinen Glauben verhöhnend, zum Narren machen wollen, indem sie sich von ihm empfangen lassen als Herzöge und Feldherren, die Hure aber als verfolgte Äbtissin; der Blinde spricht sie an, wie er sich vorstellt, daß sie es verdiene, wir aber sehen die verrotzte Person, deren Segen als Äbtissin er gläubig erbittet – kniend … Musterbeispiel einer theatralischen Situation: die Aussage liegt gänzlich im Widerspiel von Wahrnehmung und Imagination. Hier spielt das Theater sich selbst.
     
    Im Basler Museum hängt ein Gemälde von Arnold Böcklin: Odysseus und Kalypso, das Verhältnis von Mann und Frau. Er in Blau, sie in Rot. Sie in geborgener Grotte, er auf einem vorspringenden Fels, Rücken gegen sie, Blick hinaus auf die Weite des offenen Meeres … Auf der Reise hierher habe ich dieses Bild, andere suchend, wieder gesehen, verblüfft, daß das Meer, Inhalt seiner Sehnsucht, fast nicht vorhanden ist. Nur in einem winzigen blauen Zwickelchen. In meiner Erinnerung war es ein Bild voll Meer – gerade weil das Meer nicht gezeigt wird. Kein Theater, so wenig wie ein Gemälde, würde imstande sein, die Weite des Meeres zu zeigen. Es muß sie der Imagination überlassen. Bei Sartre kommt eine Szene vor, wo Zeus mit seinem Sternhimmel protzt, um Orestes, den Menschen, zum Glauben an die Götter einzuladen. Sartre macht das einzig Mögliche, er schildert diesen Sternhimmel mit Worten. Wenn nun ein Spielleiter, wie ich es gesehen habe, bei diesen Worten plötzlich einen Himmel von Glühbirnen aufleuchten läßt, die Sterne also zur sinnlichen Wahrnehmung bringen will, ist die Magie des Theaters natürlich verscherzt; der Sternhimmel, den dieser Zeus vorzuführen hat, ist dadurch

Weitere Kostenlose Bücher