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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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sich nicht auf Theorie, sondern schaute und reagierte; der Eindruck hatte den Vorrang; freilich wußte Brecht, was er abbilden wollte, und erlag nicht dem Beliebig-Eindrucksvollen. Er brauchte auf Proben (jedenfalls in Zürich, wo er großenteils mit »unpolitischen« Schauspielern zu tun hatte) nie eine politische Vokabel, um zu argumentieren; wenn Matti, der Knecht, sich die Landschaft ansehen muß unter der Begeisterung des Puntila, des Großgrundbesitzers, war die Geste und Mimik der Indifferenz, die den Knecht schweigen läßt, einfach »schöner«, »lustiger«, »natürlicher«, so wie es sofort viel »schöner« ist, wenn die Magd, mit dem Wäschebottich, trotz ihrer strammen Jugend nicht allzu aufrecht (wie eine Tennis-Spielerin etwa) einhergeht. Lauter Geschmacksfragen! Ich fand eine Szene ziemlich ordinär. Brecht: Nanu? Meine Begeisterung über anderes schob er beiseite: »Was finden Sie dann daran ordinär?« Nun wußte ich es nicht. »Wir treffen uns nachher«, sagte er, »überlegen Sie es sich!« Es zeigte sich, als man genau darüber redete, das Unbewußt-Politische meines Geschmackes; Brecht lachte: »Sie wollen, daß Puntila sich wie ein Herr benimmt, aber das tut er ja, geradewenn er ordinär wird.« In den Proben waren Schauspieler oft verdutzt, daß da plötzlich einer hellauf lachte im hinteren Parkett: Brecht.
     
    Plötzlich, bei einem nächsten Zusammentreffen, hatte er wieder das Häftlingsgesicht: die klein-runden Augen irgendwo im flachen Gesicht vogelhaft auf einem zu nackten Hals. Dabei konnte er grad sehr munter sein. Ein erschreckendes Gesicht: vielleicht abstoßend, wenn man Brecht nicht schon kannte. Die Mütze, die Joppe: wie von dem prallen Dessau entliehen; nur die Zigarre steckte authentisch. Ein Lagerinsasse mit Zigarre. Man hätte ihm ein dickes Halstuch schenken mögen. Sein Mund fast lippenlos. Er war sauber, nur unrasiert; kein Clochard: kein Villon. Nur grau. Sein Haarschnitt wirkte dann wie eine Maßnahme gegen Verlausung oder wie eine Schändung, die ihm angetan worden ist. Sein Gang: da fehlten Schultern. Sein Kopf erschien klein. Nichts von Kardinal, aber auch nichts von Arbeiter. Überhaupt sah Brecht nie wie ein Arbeiter aus, das wäre ein Mißverständnis seiner Tracht; eher so, wie Caspar Neher etwa einen Handwerker stilisieren würde, Tischler vielleicht: mit einem Kopf, daß die Römische Kirche nur in ihren Fundus hätte greifen müssen, um einen sehenswerten Kardinal zu haben. Jetzt aber, wie gesagt, war da nichts vom Kardinal, und man ging neben einem Brecht, der einen verlegen machte wie ein Beschädigter. Er klagte über nichts, im Gegenteil, er rühmte die Giehse. Wir saßen im Café Ost, das es heute nicht mehr gibt, gegenüber einem leeren Stammtisch mit studentischem Couleur-Firlefanz. Was macht einen Schauspieler aus? Man überlegte, als habe Brecht nie eine Zeile darüber geschrieben. Er hatte Zeit, Lust zu sprechen, im Gespräch war er wach und lebhaft, alles andere als ein Geschädigter, denklustig. Erst draußen auf der Straße ging er wieder wie einer, der unser Mitleid erweckt, wie einGeschundener, die graue Schirmmütze in die Stirne gezogen. Vor allem der Hals: so nackt. Er ging geschwind, aber die Arme machten nicht mit. Die graue Farmer-Jacke: als habe man ihn aus Beständen einer Anstalt eingekleidet, und nur das Bündel von Schreibstiften, die er immer in der oberen Tasche trug, war privat, die Zigarre unerläßlich, sonst wußte er nicht, wohin mit den Händen, und schob sie dann wie etwas Entblößtes flach in die Rocktaschen.
     
    5. 6. 1948, PUNTILA -Uraufführung in Zürich: das Publikum jubelte nicht. Brecht hingegen war zufrieden. »Solche Stücke muß man immer und immer wieder spielen, bis sie sich dran gewöhnen«, sagte er, »wie sie sich an Schiller gewöhnt haben. Das braucht einige Jahre.« Infolgedessen redete er wie nach einer Probe.
     
    Nur ein einziges Mal sah ich Brecht zusammen mit einem Vertreter der Bourgeoisie; der Stadtbaumeister ließ es sich nicht nehmen, zu einem kleinen Mittagessen einzuladen an einem Ort, wo man auf Zürich schaut – Brecht, statt das erwartete Lob auf Zürich auszusprechen, fragte mich, ob ich New York kenne. Ich müsse es sehen, es lohne sich, aber ich dürfe nicht zu lang warten, wer weiß, wie lang New York noch steht … Der Stadtbaumeister machte keine Konversation mehr.
     
    Die Ideologie-Diskussion, in der ersten Zeit unumgänglich, hörte nach und nach auf – nicht wegen meines

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