Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
»so muß etwas unternommen werden.« Als ich von Polen zurückkam, war er begierig zu hören, rief an, sobald er von meiner Rückkehr wußte. Ich radelte also nach Herrliberg mit viel Stoff: Breslau, heute Wroclav, Congrès International des Intellectuels pour la Paix, Warschau. Ich erwartete ein schwieriges Gespräch. Was ich zu berichten wußte, war zwiespältig, Brecht voll Erwartung. Grüße von Anna Seghers. Allein mit Brecht, der die Ostblock-Länder noch nicht aus eigner Anschauung kannte, erzählte ich einfach drauflos. Fragwürdiges, Erfreuliches, Bedrückendes, Undurchsichtiges. Ich lieferte das Konkrete. Eindrücke von einer Fahrt durch Schlesien; Gespräch mit einem polnischen Bauern, der tadellos Deutsch redete: Knecht in Ostpreußen, wo er lernte und soviel ersparte, daß er zu einem eigenen Hof in Ostpolen kam, Krieg, von den Russen aus seiner Heimat vertrieben, jetzt angesiedelt auf schlesischem Boden; eine Lebensgeschichte. Brecht war ein offener Zuhörer, was die Berichterstattung erleichterte; ich sah ihn bestürzt oder erfreut je nachdem, alles in allem eher bekümmert. Die Art, wie Fadejew und der brillante Ehrenburg manövrierten, verdroß ihn: »Wenn man schon einen Kongreß macht, dürfte das nicht vorkommen.« Ab und zu rief er die Weigel, aber wir blieben allein, Brecht aufgewühlt, oft stumm, unverhohlen betroffen, weit davon entfernt, das Mißliche zu bestreiten. Einmal sein Vorwurf, daß ich beim Staatsempfang, wo hunderte von Intellektuellen sich um ein Buffet sammelten, nicht rundheraus gewisse Fragen gestellt habe. Was ich an beginnendem Aufbau und Planung in Warschau (das Projekt wurde nach dem Sturz von Gomulkaannulliert) gesehen hatte oder was man in Kellerkneipen unter Ruinen, abseits vom offiziellen Optimismus, an lebensfrohen und unmittelbaren und glücklichen Menschen erleben konnte, berichtete ich gern; Brecht nahm es als Beweis, daß ich nicht polemisierte, und verbuchte das Negative, das auch in seiner Ansicht negativ war, um so ernster. »So geht das ja nicht«, sagte er mehrmals, »das muß geändert werden.« Später setzte sich Helene Weigel dazu, ich sollte weiter berichten, teilweise wiederholen; es ging nicht mehr. Nicht nur die Weigel hatte auf alles, was der Augenzeuge meldete, die gebrauchsfertige Auslegung in maßregelndem Ton; auch Brecht war wie verwandelt jetzt, plötzlich ungehalten nicht über Fadejew, sondern über mich. Ich saß in einer Prüfung, um durchzufallen. Unterrichtet darüber, was in Polen vorging, nahm ich mein Fahrrad.
Sicher ist Herzlichkeit nicht das erste, was auffiel an diesem Mann, der Rohstoff ungern preisgab, und Gefühle sind Rohstoff. Wärme in Worten, das war in seiner Gegenwart auch dem Partner nicht möglich; daß Brecht im persönlichen Umgang sich eines nahezu gleichen Vokabulars bediente für Duldung oder Achtung oder Zuneigung, gab ihm vorerst etwas Instanzhaftes. Seine Gestik (ich komme immer wieder auf seine Gestik: dabei war sie sehr knapp, manchmal fast mechanisch-stereotyp) leistete vor allem Parodie. Was mußte da immer wieder parodiert werden? Brecht muß die Sentimentalität sehr gekannt haben, und was nur von ferne hätte ein Gefälle dahin haben können, verbannte er. Seine Höflichkeit, die sich nicht in Floskeln ausdrückte, sondern im Verhalten bei der Begrüßung oder bei Tisch, eine graziöse Höflichkeit war das einzige, was er als Ausdruck der Zuneigung zuließ. Gemütlichkeit torpedierte er sofort, und wenn nötig, ziemlich grob. Er fühlte sich sichtlich nicht wohl. Nur im Gedicht, alsounter artistischer Kontrolle, war gestattet, was Brecht sonst durch Witz und Gestik isolierte: Gefühle. Brecht war schamhaft. Waren Frauen zugegen, zeigte Brecht, im Gegensatz zu den meisten Männern, keinerlei Veränderung, keine Imponier-Geste; Frauen in Gesellschaft waren Genossen, somit neutralisiert, oder sie waren Gänse, die, als solche erkannt und behandelt, das Gespräch nicht lange störten. Dann zeigte Brecht mehr als sonst und so, daß man sich wunderte, Herzlichkeit gegenüber Männern.
Frühling 1950, Berlin: DER HOFMEISTER , Tragikomödie von Lenz in der Bearbeitung des Berliner Ensembles, zum ersten Mal der Vorhang mit der weißen Picasso-Taube, nachher Brecht draußen auf dem Platz vor dem Deutschen Theater, ohne Aura. Es freute ihn offensichtlich, daß man nach Berlin kam, um die Arbeit des Ensembles zu sehen. Kein berühmter Schauspieler, ein paar Bekannte aus Zürich: Hans Gaugler, Regina Lutz,
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