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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Hand: Schon Jesus hat gesagt. Sobald der junge Mann, Vietnam-Veteran, sachlich diskutieren will, liest er aus der Bibel, z. B. die Parabel vom guten Samariter: gleichgesetzt der US-Army in Vietnam, in Kambodscha, in Laos oder wo immer; sie helfen den Wehrlosen dort, die von Räubern überfallen werden. Was ist denn das für eine Jugend, die langhaarig vor dem Capitol herumlungert? Und jetzt das Mao-Büchlein aus der Tasche; hier steht's, was Kommunismus ist: sie wollen siegen, um die Welt zu zerstören durch Materialismus. Mao (»this guy«) sagt es ganz offen: sie wollen die USA schwächen. Vergeblich legt jetzt der jüngere Mann einiges dar, historische Fakten betreffend Indochina, die man wissen kann. Was aber sagt Jesus? Zum Beispiel: Wer zum Schwert greift, wird fallen durch das Schwert. Das ist gleichfalls bekannt,aber es bedarf der Auslegung: Zum Schwert gegriffen hat der Kommunismus, und es ist Gottes offenbarter Wille, daß die USA, als das stärkste Land der Welt, sein Gericht vollstrecken muß. Das sagt kein eifernder Prediger, nur ein gelassener Pfarrer im Fernsehen, daran gewöhnt, daß seine Gemeinde ihm beipflichtet. Zum Fall des Lieutenant Calley: Auch Frauen und Kinder und Greise sind unsere Feinde (was der junge Vietnam-Veteran zugibt, aber auch begründet mit der Erfahrung, die das vietnamesische Volk mit den Weißen gemacht hat), und Feinde muß man töten, sagt der Pfarrer, also hat Calley richtig gehandelt, brav und gottesfürchtig, und die Feiglinge im Land, die nach Frieden rufen, helfen nur dem Antichrist, denn es gibt nur Frieden durch Waffen, Frieden durch Sieg der US-Army, denn die Freiheit hat uns Gott geschenkt, und eines Tages wird auch Cuba wieder frei sein, wenn wir an Gott glauben wie unsere Väter, die deswegen nie einen Krieg verloren haben. Der Pfarrer läßt sich von einem bärtigen Intellektuellen, der die Ausrottung der indianischen Bevölkerung erwähnt, nicht irre machen; das waren Siege, Gottes Wille. Ein dritter Mann am Tisch, ehemals Botschafter in Asien, versucht's mit Spaß: ob Gott seine Gnade nur auf ein einziges Volk ausschütte? dann mit der Frage: soll man also Cuba und Chile überfallen? Der Pfarrer ist bescheiden, er will dem Präsidenten nicht dreinreden; als Christ kann er nur hoffen, daß Gott einen unbeugsamen Präsidenten wählt, und betreffend die Gnade-Verteilung auf Völker, Spaß beiseite: jedenfalls kann Gott nichts übrig haben für die Sowjetunion. Denn Gott ist für Freiheit und Anstand und Moral. Wie heißt es in der Bibel? Es gibt nur eins, was den Pfarrer jeweils zu unterbrechenvermag, die nächste Fernseh-Reklame: THE BEER THAT MADE MILWAUKEE FAMOUS. Also die Bibel sagt, und die Pflicht eines jeden Amerikaners ist offenbar: Kommunisten müssen getötet werden, die amerikanischen Gefangenen erlöst, die Bombenangriffe auf Nord-Vietnam fortgesetzt und verstärkt. Ein Hinweis darauf, daß Kriegsgefangene immer erst bei einem Friedensvertrag oder gegen Austausch freigelassen werden, ist für den Pfarrer leicht zu widerlegen: es gibt keinen Vertrag mit Kommunisten, solange sie die amerikanischen Gefangenen (»American lives«) nicht freigeben. Übrigens wird der Wortwechsel nie unerbittlich; der Diplomat und der Pfarrer, obschon nicht einverstanden, finden sich immer wieder in einem jovial-loyalen Lachen. Nur der junge Bärtige bleibt humorlos, kommt mit Zahlen oder mit der Genfer Konvention. Auch der Moderator hat Sinn für neutralen Scherz; schließlich haben die Millionen von Fernsehern, wenn sie schon alle sieben Minuten wieder Reklame sehen müssen, ein Recht auf Unterhaltung. Daß es in Vietnam bekanntlich Zonen gibt, wo die amerikanische Armee ihrerseits keine Gefangenen macht, sondern alle tötet, findet der Pfarrer militärisch gerechtfertigt, denn das amerikanische Volk geht in einen Krieg, um ihn zu gewinnen, sonst gibt es auf der Welt, »die Gott uns geschenkt hat«, weder Frieden noch Freiheit noch Anstand noch Moral … Nach einer Stunde stelle ich ab.
     
     
    THE NEW YORK TIMES
     
    Mrs. Georg C. Barclay is a silver-haired, 67-year-old Manhattan housewife who wants to die with dignity. So she recently signed the Euthanasia Educational Fund's »living will«,in which she requested that, if she becomes ill and there is no reasonable expectation for her recovery, she be allowed to die and not be kept alive by »artificial means« or »heroic measures«.
    Her husband, a retired banker, and their three children know of the will, and have

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