Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
Schläger Mubaraks am Rand des Platzes in ihre Fänge bekommen hatten. Er hatte eine tiefe Schnittwunde quer über den Kopf. Der Arzt vernähte die Wunde, doch als er sie verbinden wollte, lief der Junge davon. „Ich habe keine Zeit, ich muss unseren Platz verteidigen“, rief er noch. In der Talkshow gerät Tarek Hilmis Stimme ins Stocken, bricht, er kann nicht mehr weitersprechen. Lange versucht die Moderatorin ihn zu beruhigen, bevor der Arzt die Geschichte weitererzählen kann. Er habe den Jungen noch einmal gesehen, führt er weiter aus. „Mit einem Kopfschuss, einem Loch im Kopf – er war tot.“
Die Show, „10 Uhr abends“ hat ein Millionenpublikum. Am nächsten Tag, einem Dienstag, es war ein Tag, an dem die Aktivisten auf dem Tahrir-Platz nicht besonders mobilisiert hatten, das war meist dem Freitag vorbehalten – an diesem Dienstag fanden sich mehr Menschen auf dem Platz ein als je zuvor, weit über eine Million.
Es gab viele solche Geschichten, die die Menschen auf die Barrikaden gebracht haben und die erklären, warum sie immer zahlreicher auf den Tahrir-Platz kamen, warum sie eine kritische Masse erreichten, mit der kein Sicherheitsapparat der Welt mehr umgehen kann. Auch wenn beileibe nicht jeder und jede auf den Platz kam, am Ende hatte ein ganzes Land den Tahrir-Platz als Konzept im Kopf und trug ihn im Herzen. Das war das Ende des Unrechtsregimes Mubaraks, wovon zuvor kaum jemand zu träumen gewagt hatte.
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Hätte man ahnen können, dass der arabischen Welt ein solches Erdbeben bevorsteht? Jahrzehntelang hatten die ägyptischen Intellektuellen von einer bevorstehenden Explosion gesprochen. Das erste Mal habe ich solchen Diskussionen Anfang der 1990er Jahre zugehört, als ich nach Kairo gezogen war. Es könne so einfach nicht weitergehen. Die Schere zwischen Arm und Reich werde immer größer, die Korruption, die Willkür, die Unterdrückung immer unerträglicher. Demnächst werde es, müsse es knallen. Sie haben es so oft wiederholt, bis sie es selber nicht mehr glaubten.
Aber ich erinnere mich auch an den großartigen, inzwischen verstorbenen ägyptischen Politologen Mohammed Sid Ahmad, der mir jungem Journalisten in seiner Wohnung auf der Nilinsel Zamalek oft und oft in druckreifen Worten in meinen Notizblock diktiert hatte, wie die arabische Welt funktioniert. Auch er sprach immer wieder von der bevorstehenden Explosion und lachte schon selber darüber. Aber er sagte auch: „Wenn hier in Ägypten die Revolution ausbricht, wirst du 24 Stunden vorher keinen Schimmer haben, was dir bevorsteht.“
Aber vielleicht hätte man doch auch ohne Kristallkugel den Gang der Dinge voraussagen können, auch wenn nach jahrzehntelanger arabischer Autokraten-Herrschaft und vollkommener politischer Stagnation alles vermeintlich unveränderbar aussah. Man hätte diese von einer Armada von Sicherheitsapparaten geschützten Systeme als das ansehen können, was sie waren: historische Auslaufmodelle, mit denen kein Staat mehr zu machen war.
Ägypten schien mit seinem 83-jährigen, greisen Präsidenten wie politisch paralysiert. Zumal diese Lähmung mit der Diskussion, ob nicht die Macht Hosni Mubaraks weiter an seinen Sohn Gamal vererbt werden könnte, für eine Ewigkeit festgeschrieben schien. Die Mächtigen schienen fest im Sattel zu sitzen. Nicht zuletzt, weil man sie in Europa und in den USA als Garanten der Stabilität hofierte. Ab und an gab es Anzeichen eines wachsenden Unmuts, wenn die immer gleichen 200 Verdächtigen der Kifaya, der „Es reicht“-Bewegung, wieder einmal an einer Straßenecke Kairos protestierten. Oder wenn die Arbeiter der staatlichen Textilfabriken in den Ausstand gingen.
Doch der Sicherheitsapparat schlug jeden Protest nieder. Er war sich seiner Sache sicher. So sicher, dass zwei Polizisten in Alexandria im Juni 2010 auf offener Straße, vor Passanten als Augenzeugen, einen Jugendlichen zu Tode prügelten. Wer sollte in einem Land, das seit Jahrzehnten mit Notstandsgesetzen regiert wurde, die den Sicherheitsdiensten uneingeschränkte Macht gaben, schon etwas dagegen sagen können?
Normalerweise wäre ein solcher Vorfall bestenfalls in irgendwelchen Menschenrechtsberichten aufgetaucht, die bestenfalls von einem halben Dutzend ausländischer Journalisten gelesen worden wären, die dann das Ganze bestenfalls in irgendeinem Bericht über Ägypten erwähnt hätten. Aber manchmal wird die Würde einmal zu viel mit den Füßen getreten. Denn nicht das Brot, sondern dieses
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