Tagebuch eines Engels
nicht an Ben und Una erinnern. Ich hatte keine Ahnung, dass die beiden je eine so wichtige Rolle in meinem Erdenleben gespielt hatten. Margot befand sich nur selten im kunstvoll handgeschnitzten Mahagoni-Gitterbettchen im Kinderzimmer. Viel öfter saà sie tagsüber auf Unas rechter Hüfte und kuschelte sich nachts an ihre linke Brust. Sie lag so warm und geborgen zwischen Una und Ben.
Sie sprachen viel über Adoption, und ich unterstützte sie nach Kräften in diesem Vorhaben. Jedes Mal, wenn Ben die Angst überkam â »Und wenn sie stirbt ?« â, kitzelte ich Margot, bis sie ausgelassen lachte oder die Ãrmchen ausstreckte, während sie versuchte, ihre ersten Schritte zu machen. Una war verliebt. Ich auch â in diese wunderbare mütterliche Frau. Ich hatte diese Art Frauen bisher nie verstanden. Una wachte jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang mit einem Lächeln auf den Lippen auf und konnte manchmal Stunden damit verbringen, die in ihren Armen schlafende Margot einfach nur anzusehen, wiederum selig lächelnd. Manchmal strahlte das goldene Licht um sie so grell, dass ich mich abwenden musste.
Doch dann tauchte ein anderes Licht auf. Wie eine Schlange schlich es sich eines Nachmittags unbemerkt durch die Hintertür herein und legte sich als dunkles, stahlblaues Band um Ben und Una, während sie am Esstisch saÃen und mit rosa Muffins, einer einzelnen Kerze und einem Berg von Geschenken Margots ersten Geburtstag feierten. Dieses Licht â eigentlich war es mehr ein Schatten â hatte etwas Intelligentes, Lebendiges an sich. Es bemerkte mich und schnellte zurück, als ich mich vor Margot aufbaute, bewegte sich dann aber langsam auf Una und Ben zu. Da tauchte Unas Schutzengel kurz auf. Doch statt das dunkle Licht aufzuhalten, trat er zur Seite. Wie Efeu rankte das Schattenlicht sich um Bens Bein, wo es dann zu dunklem Staub zerfiel.
Ich ging im Wohnzimmer auf und ab. Ich war wütend. Ich hatte das Gefühl, man hätte mir eine Aufgabe zugeteilt, aber vergessen, mir auch die Fähigkeiten dafür mitzugeben, diese Aufgabe zu erfüllen. Wie sollte ich denn jemanden beschützen, wenn immer wieder irgendwelche Dinge auftauchten, von denen mir keiner was gesagt hatte?
Ben und Una wussten von nichts und feierten unbeschwert weiter Margots Geburtstag. Sie trugen das Kind über die Treppe in den Garten hinunter, wo sie dann direkt vor Bens Kamera die ersten Schritte machte.
Mich beschlich der Gedanke, dass Ben vielleicht recht hatte. Wenn alles so gut klappte, konnte das doch nur die Ruhe vor dem Sturm sein.
Den ganzen Nachmittag ging ich ziellos umher, bis ich schlieÃlich weinte. Ich kannte Margots Kindheit nur zu gut. Was mich viel mehr bedrückte als die Aussicht darauf, die ganze Missbrauchsgeschichte noch einmal zu durchleben, war eigentlich der Umstand, hier und jetzt zu sehen, wie mein Leben auch hätte verlaufen können. Ich beschloss zu handeln. Wenn Margot von Ben und
Una adoptiert würde, wäre ihr eine Kindheit in Geborgenheit und Liebe gewiss. Sie würde zu einem ausgeglichenen Menschen heranwachsen, der höchstwahrscheinlich weniger zur Selbstsabotage neigte. In jenem Moment hätte ich meine unsterbliche Seele dafür gegeben, dass Margot in einer Umgebung aufwächst, die ihr das Gefühl gibt, liebenswert zu sein.
Später kam Nandita. Ich erzählte ihr alles: von der Geburt, vom Krankenhaus, von der Lichtschlange. Sie nickte und presste in einer nachdenklichen Geste beide Handflächen gegeneinander.
»Das Licht, das du gesehen hast, ist der Lauf des Schicksals«, erklärte sie. »Seine Farbe weist darauf hin, dass es sich um ein tragisches Schicksal handelt.«
Ich bat sie fortzufahren.
»Jeder Lauf eines Schicksals hat seinen Ursprung in der Entscheidung eines Menschen. In diesem Fall sieht es ganz so aus, als handele es sich um keine gute Entscheidung.«
Ich äuÃerte meinen Unmut darüber, dass ich Bens Schutzengel noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Auch das konnte Nandita erklären.
»Nur Geduld«, sagte sie. »Schon bald wirst du alles sehen.«
»Aber was mache ich denn jetzt mit diesem Lauf des Schicksals?« Ich sprach die Bezeichnung nur widerwillig aus. Sie verharmloste die Dinge gnadenlos.
»Nichts«, sagte Nan. »Deine Aufgabe besteht darin â¦Â«
»⦠Margot zu beschützen. Ja, ich weiÃ. Genau das versuche ich ja. Aber ich kann sie
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