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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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Pflegeeltern verdienen könnten, ihr im Wachstum begriffenes Geschäft mit illegalen Einwanderern subventionieren könnten. Die Leute, die die Immigranten herüberschafften, verlangten fünfundzwanzig Pfund pro LKW-Ladung Männer und Frauen aus Osteuropa, und manchmal dauerte es eine Weile, bis sie für sie alle Arbeit gefunden hatten. Wenn sie dann erst mal Arbeit hatten, strichen Padraig und Sally neunzig Prozent ihres Lohns »für Kost und Logis« in dem baufälligen Gebäude ein. In ihrem Übereifer, ihren immigrierten Genossen dabei zu helfen, Fuß zu fassen, quetschten Padraig und Sally irgendwann zwanzig dieser armen Seelen auf einmal in ein einziges Zimmer. Und das monatelang. Zeitweise brachten sie sie sogar in ihrem eigenen verlotterten Haus unter.
    Und so kam es, dass Margot ihr Kinderzimmer mit drei polnischen Elektrikern teilte, die auf dem nackten Fußboden kampierten – morgens, mittags, abends. Die drei rauchten quasi die ganze Zeit. Wenn sie nicht rauchten, tranken sie Wodka oder schlürften Suppe. Sally dachte nur selten daran, dass sich in dem Zimmer auch ein Kind befand. Sie dachte nur selten daran, diesem Kind die Windel zu wechseln, es umzuziehen oder gar zu füttern.
    Egal, was ich tat oder was ich Sally sagte – es brachte nichts. Sie bemerkte nicht ein einziges Mal meine Anwesenheit, hörte nicht ein einziges Mal, was ich – in Margots Namen – von ihr verlangte, spürte nicht ein einziges Mal die Ohrfeigen, die ich ihrer schwachsinnigen Fratze verpasste. Denn genau so, wie Sallys Haus bis unter den Schornstein mit illegalen Einwanderern besetzt war, wimmelte es in ihrem Körper von Wanderdämonen. Und der klägliche Rest eines Gewissens, über den sie noch verfügte, wurde mit einer täglichen Dosis Cannabis abgetötet. Aber dazu später mehr.
    Glücklicherweise fand einer der Polen aus dem Kinderzimmer, Dobrogost, Gefallen an Margot, weil er selbst seine einjährige Tochter in Stettin hatte zurücklassen müssen, um in Westeuropa Arbeit zu finden. Ich half Dobrogost dabei, bei einem Bauunternehmen in Hafennähe einen Job zu finden, brachte ihn dazu, Padraig und Sally gegenüber bezüglich seines Lohns zu lügen und schließlich sogar Babynahrung für die kleine Margot zu kaufen. Sie hatte unzählige wunde Stellen, die von den vollen Windeln und der schlechten Ernährung herrührten. Manchmal nahm ich sie nachts aus dem Gitterbett und half ihr, ein bisschen durchs Haus zu laufen. Padraig und Sally staunten nicht schlecht, als sie das kichernde Kleinkind um drei Uhr morgens bei einem Spaziergang über den Flur antrafen. Hin und wieder war ich versucht, den Pflegeeltern eins auszuwischen, mir zu nachtschlafender Zeit Margot zu schnappen, sie über Padraigs und Sallys Bett schweben zu lassen und diese zu wecken. Aber dann ließ ich es doch besser bleiben.
    Eines Tages war Dobrogost verschwunden. Die neuen Kinderzimmer-Bewohner flüsterten sich etwas von einem versteckten und entdeckten Lohnzettel zu, von einer Leiche im Kofferraum, von einem schweren Koffer, der ins Meer geworfen wurde. Den Neuen ging Margots nächtliches Geheule um Dobrogost auf die Nerven. Die Kleine fing an, mich zu ignorieren, denn sie sehnte sich nach menschlicher Zuwendung. Einmal versuchten die neuen Bewohner, sie aus dem Fenster zu werfen. Ich schlug einfach das Fenster wieder zu. Als sie die Scheibe zertrümmerten, stellte ich mich davor, versuchte Margot aus der Umklammerung eines der Männer zu befreien. Aber ich konnte die Bewohner nicht davon abhalten, Margot so heftig zu schlagen, dass ihre schönen blauen Augen fast hinter der angeschwollenen, lila verfärbten Haut verschwanden, und ich konnte auch nicht verhindern, dass sie sie gegen die Wand warfen und damit winzige Frakturen in ihrem kleinen Schädel verursachten. Ich konnte lediglich verhindern, dass sie sie töteten, indem ich die Schläge abmilderte. Unzählige Male versuchte ich, Hilfe zu holen, vergeblich. Keiner hörte auf mich.
    Margots dritter Geburtstag verstrich unbemerkt. Ihr Haar glich immer noch einer Wolke aus Watte, ihr Gesicht war immer noch pausbäckig und engelhaft. Doch ich erkannte die ersten Anzeichen von Verhärtung. Von Verlust. Das goldene Licht, das sie noch so viele Monate nach Unas Tod umgeben hatte, war geschrumpft. Jetzt umgab es gerade noch ihr Herz.
    Als ich schließlich begriff, dass ich nicht mehr

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