Tagebuch Eines Vampirs 04. In Der Schattenwelt
daß die Nässe auf Stefans Gesicht nicht vom Regen herkam, der immer noch sanft rieselte. Heftig atmend stand er auf der Stelle, an der Elenas Geist zuletzt gesehen wurde. Und all die Sehnsucht und der Schmerz, die Bonnie schon vorher auf seinem Gesicht gesehen hatte, waren nichts im Vergleich mit dem, was sie jetzt beobachten mußte.
„Es war nicht fair“, flüsterte sie. Dann schrie sie zum Himmel, egal, wen sie damit meinte: „Es ist nicht fair.“ Stefan hatte immer hektischer Luft geholt. Jetzt hob er ebenfalls sein Gesicht, aber nicht im Zorn, sondern von unendlichem Leid erfüllt. Sein Blick durchsuchte die Wolken, als könne er dort ein Zeichen des goldenen Lichts, ein Aufflackern ihrer hellen Gestalt entdecken. Vergeblich. Bonnie sah, wie ihn ein Krampf durchfuhr, schlimmer als die Qual, die ihm Klaus' Stock zugefügt hatte. Und der Schrei, den er ausstieß, war das Entsetzlichste, was Bonnie je gehört hatte.
„Elena!“ Bonnie konnte sich nachher nicht mehr genau erinnern, was in den nächsten Sekunden geschah. Sie hörte Stefans
Schrei, bei dem die Erde unter ihren Füßen zu beben schien.
Sie sah, daß Damon zu ihm laufen wollte. Und dann den Blitz.
Ein Blitz, wie die Blitze von Klaus. Nur war dieser nicht blauweiß. Er war golden.
Und so hell, daß Bonnie glaubte, die Sonne wäre vor ihren Augen explodiert. Alles, was sie nach ein paar Sekunden erkennen konnte, war ein Wirbelsturm an Farben. Dann sah sie etwas in der Mitte der Lichtung, nah bei dem Schornstein.
Etwas Weißes, geformt wie die Geister, doch etwas, das mehr Körper besaß. Etwas Kleines, Zusammengekauertes... nein, es mußte etwas anderes sein als das, was ihre Augen ihr vorgaukeln wollten.
Denn es glich einem schlanken, nackten Mädchen, das auf dem Waldboden zitterte. Einem Mädchen mit hellblondem Haar. Elena.
Nicht der leuchtenden Gestalt aus der Geisterwelt oder dem blassen, unmenschlichen Wesen, das Elena, die Vampirin, gewesen war. Das hier war eine Elena, deren weiße Haut unter dem stetigen Regen rosagefleckt und mit einer Gänsehaut bedeckt war. Eine Elena, die verwirrt schien, während sie langsam den Kopf hob und sich umsah, als seien ihr all die vertrauten Dinge auf der Lichtung völlig fremd.
Es ist eine Illusion. Oder sie haben ihr noch ein paar Minuten gewährt, um sich zu verabschieden, redete Bonnie sich ein. Doch sie konnte ihre eigenen Worte nicht glauben.
„Bonnie?“ fragte eine Stimme unsicher. Eine Stimme, die nicht mehr klang wie Glockengeläut im Wind. Das hier war die Stimme eines verängstigten jungen Mädchens. Bonnies Knie gaben nach. Ein wildes Gefühl stieg in ihr auf. Sie versuchte, es zu unterdrücken, und wagte noch nicht, es genauer zu untersuchen. Sie beobachtete Elena nur.
Diese berührte das Gras vor sich. Zunächst zögernd, dann immer fester, schneller und schneller. Sie hob ein Blatt mit ungeschickten Fingern auf, legte es wieder hin, betastete die Erde. Hob ein anderes Blatt auf. Griff sich eine ganze Handvoll, preßte sie an sich, roch ihren Duft, öffnete die Hände, ließ sie zu Boden rieseln. Sie sah Bonnie an, während die Blätter vom Wind verweht wurden.
Einen Moment knieten beide nur da und sahen sich aus einigen Metern Abstand an. Dann streckte Bonnie zitternd die Hand aus. Das Gefühl in ihr wuchs und wuchs. Elena erwiderte ihre Geste. Ihre Finger berührten sich. Richtige Finger. In einer realen Welt, in der sie sich beide befanden.
Bonnie stieß einen Schrei aus und warf sich auf Elena. Eine Minute streichelte und betastete sie die Freundin in wilder, ungläubiger Freude. Und es war wirklich Elena!
Sie war naß vom Regen, zitterte, und Bonnies Hände fuhren nicht durch sie hindurch. Kleine Stücke von feuchten Blättern und Erdkrumen hingen in Elenas Haar. „Du bist hier“, schluchzte Bonnie. „Ich kann dich anfassen, Elena!“
„Ich kann dich auch anfassen“, erwiderte Elena genauso aufgewühlt. „Ich bin hier.“ Sie griff wieder nach den Blättern.
„Ich kann die Erde berühren!“ „Ich fühl dich.“ Sie hätten ewig so weitergemacht, aber Meredith unterbrach sie. Sie stand mit weißem Gesicht ein paar Schritte entfernt und beobachtete alles mit großen dunklen Augen. Ein ersticktes Geräusch entfuhr ihrer Kehle.
„Meredith!“ Elena wandte sich ihr zu und hielt ihr die Blätter hin. Dann breitete sie die Arme aus. Meredith, die damit fertig geworden war, daß man Elenas Leiche im Fluß gefunden hatte, daß Elena als Vampirin zu ihrem Fenster
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