Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Fenster. Zwischen den goldenen und bordeauxroten Schleiern der herbstlichen Abenddämmerung erblicke ich einen üppigen Garten, Apfelbäume überladen mit reifen roten Früchten. Durchs Zugfenster strömt der warme Körpergeruch des sonnenerhitzten Gartens.
Tränen treten mir in die Augen. Ich habe plötzlich das sichere Gefühl: Ich muss hier bleiben, aussteigen, eilig mein Gepäck zusammenraffen, hier bleiben irgendwo zwischen Dieppe und Paris, in der Normandie. Ich komme aus London, Europa rüstet zum Krieg. Wo bin ich? … »Irgendwo in der Welt«, inmitten meines eigenen dreißigjährigen Krieges. Die Überfahrt ist stürmisch gewesen, schon in New Haven begann das Schiff zu schlingern, in der Mitte des Kanals verfinsterte sich der Himmel, vornehme Damen lehnten sich in Tücher gehüllt über die Schiffsreling und stöhnten, übergaben sich wie Tiere. Später in Dieppe, im glücklichen Moment der Landung, des Festlands, der »terra firma« wirkten sie dann noch vornehmer als zwei Stunden zuvor an englischen Ufern. Sie winkten die Zollbeamten ab.
Doch das alles geht mich nichts an. Nur dieser Garten Eden in der Normandie geht mich jetzt etwas an. Ein warmer Wind lässt die schweren Äste erzittern. Hier bleiben, leben, glücklich sein. Ich hatte stets nur arbeiten, meine Pflicht tun wollen wie jemand, dem man eine Strafe auferlegt hat. Und jetzt, zum ersten Mal in meinem Leben, diese wilde Sehnsucht: glücklich zu sein.
Langsam, schleppend setzt sich der Zug in Bewegung, als sträube er sich, diese glückliche Gegend zu verlassen. Wir lassen die Obstbäume im goldenen Nebel, im dichten Dunst des Frühherbstes hinter uns. Ich werde mit einem Mal müde, lege mich wieder auf die Holzbank, bin allein im Abteil. Ich verberge mein Gesicht in meinen Armen. Ich fahre heim, zu leben, zu arbeiten, alt zu werden.
Der »Tatort«, das Zimmer, in dem einst etwas geschah, wovon ich viel später erfuhr, dass es ein verhängnisvoller Akt war, jemanden das Leben kostete.
Jahre später mache ich Zwischenstation in der Stadt. Ich steige um Mitternacht in einer Herberge für Durchreisende nahe dem Bahnhof ab. Am Mittag des nächsten Tages begebe ich mich zu dem Haus, läute an der Wohnungstür.
Ja. X . habe hier gewohnt. Jetzt wohnen Fremde hier. Sie lassen mich eintreten, misstrauisch. Von den Möbeln stehen nur noch das Bücherregal und der zweitürige Schrank an ihrem Platz. Ich trete ans Fenster, sehe den Platz gegenüber, das hellgrüne Haus mit dem Garten. Jetzt ist alles schneebedeckt. Damals war Sommer, weiße Hitze, staubbedeckte Akazien.
Und nun am Tatort wird mir plötzlich klar: Ich hatte keine Wahl. Alles andere wäre eine Lüge, eine Verleugnung der Wirklichkeit gewesen. Wir hatten beide keine Wahl, weder er noch ich. Das ist wohl das Verhängnis. In solch ärmlichen, bescheidenen Kulissen reift das Verhängnis heran.
Im Zimmer nebenan wimmert ein Säugling. Diese Stimme beruhigt mich. Das Leben, wie gleichgültig es doch ist! Ausharren, unsere Pflicht tun, uns um nichts anderes kümmern.
Pál Teleki . Er geht auf der Schanze spazieren, ein paar Tage vor seinem Selbstmord. Ein Beamter begleitet ihn.
Er trägt einen polnischen Pelz, einen Jägerhut. Sein Blick hinter der Brille ist der eines Kindes: fragend und misstrauisch. Und tatsächlich, dieser gebrechliche Körper hat etwas von der Haltung eines in die Jahre gekommenen Jungen, eines Jünglings, der sich weigert, ganz erwachsen zu werden. Nur sein Geist ist erwachsen: die Art, wie er der Welt entgegentrat. Er blieb jungenhaft bis zum Schluss, auch als Ministerpräsident; linkisch, nur zum Schein rohrstockfreudig und lehrmeisterhaft. Insgeheim fürchtete er sich vor der Welt. Nicht zufällig zog er sich so gern als Pfadfinder an, war er so gern unter Kindern. Unter ihnen fühlte er sich im Grunde seines Herzens viel heimischer als in der Welt der Erwachsenen.
Ein paar Tage später erschoss er sich, und plötzlich war er entsetzlich erwachsen. Jede Verlegenheit, jede Befangenheit war aus dem Gesicht des Toten gewichen. Er war wie jemand, der etwas begriffen und ausgesprochen hat.
Ein regnerischer Vormittag im Park von Gödöllő. Schon seit einer Stunde stehe ich am Schlosseingang, vor zwei Wache haltenden Husaren. Da erscheint der König .
Er trägt Uniform, hat den Mantelkragen hochgeschlagen. Ein junger Offizier folgt ihm zu seiner Linken. Langsam, die Hände in den Taschen, geht er auf dem vom Regen aufgeweichten Weg des Parks, unter triefenden
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