Tagebücher 01 - Literat und Europäer
es wohl auf der Hand, dass es zu vielen Eintragungen, die inzwischen mehr als 60 Jahre zurückliegen, Erklärungsbedarf gibt. Zumal die Aufzeichnungen – zumindest was den ersten Teil des 1945 erschienenen Bandes angeht – ursprünglich wohl noch gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen sind und auch nicht bis ins Detail ausformuliert waren. Manches ist da nur angedeutet oder auch verklausuliert gesagt. Solche Passagen verlangen ebenso nach Aufklärung wie Tatbestände, die zur Entstehungszeit der Tagebücher noch allgemein bekannt waren.
Für einen Anmerkungsapparat spricht auch, dass es sich hier nicht um kalendermäßig geordnete Begebenheiten oder kommentiertes Tagesgeschehen handelt, sondern oft um Gedanken und Reflexionen des Autors sowie seine persönliche Resonanz auf Ereignisse aus Geschichte und Politik, auf Begegnungen und vor allem auf seine Lektüre. Da sind erklärende Anmerkungen nicht nur hilfreich, sondern oft unerlässlich. Zudem können bei der deutschsprachigen Leserschaft dieser Übersetzung keine detaillierten Kenntnisse der ungarischen Geschichte und Literatur, von Ortsnamen und anderen geografischen Begriffen sowie über politische Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Ungarn vorausgesetzt werden, die zum Verständnis der Tagebuchtexte vielfach erforderlich sind.
Da Márai, wie gesagt, kein Tagebuch in chronologischer Abfolge geführt hat, wird im Anmerkungsteil von Zeit zu Zeit auf genau zu datierende Fakten und Ereignisse hingewiesen, die Datierungshilfe bieten und als eine Art kalendarisches Gerüst dienen können.
Bei der Zahl solcher Texterläuterungen das richtige Maß zu finden war nicht ganz leicht. Kein Leser soll sich bevormundet oder gar genötigt fühlen, sämtliche Anmerkungen zu lesen oder nachzuschlagen; deshalb finden sich im laufenden Text auch keine Fußnoten oder sonstige vielleicht störende Hinweise auf vorhandene Anmerkungen.
Márai war ein bewusster Bürger Europas, ein polyglotter Autor, der außer seiner ungarischen Muttersprache auch Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und einigermaßen Slowakisch sprach; er las den Großteil seines täglichen literarischen Pensums, aber auch Werke zu Religion, Philosophie, Naturwissenschaft in der Originalsprache; so nennt er in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen meist die fremdsprachigen Titel seiner Lektüre; sie sind hier bewusst beibehalten, in Klammern ist die deutsche Übersetzung angeführt, auch wenn diese Bücher nicht auf Deutsch erschienen sind. Wo es deutsche Ausgaben davon gibt oder gab, findet sich beim deutschen Titel der Hinweis »dt.«.
Aus all den genannten Gründen hoffen Verlag und Herausgeber, dass diese Edition den Erwartungen der Leser und dem hohen Anspruch genügt, den Márai zeitlebens an sich, seine Übersetzer und Verlage gestellt hat.
Auch wenn der Autor seine Einträge einmal verharmlosend als »Treibgut« bezeichnet hat, wird doch dieses umfangreiche Werk von manchen Márai-Kennern als sein wichtigstes betrachtet; für die Leserinnen und Leser seiner Romane, Essays und Gedichte sind die Tagebücher authentische und erhellende Bekenntnisse und Zeugnisse eines langen Schriftstellerlebens im 20. Jahrhundert.
Ernő Zeltner
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