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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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wurde diese wahnwitzige zu einer blutigen Liebe, im ultimativen Sinn des Wortes und der Groschenhefte »blutige« Wirklichkeit. Sie hatten sich hier innerhalb eines Jahres zu Tode geliebt.
    Ich würde am liebsten alles fotografieren und notieren, die Zimmereinrichtung, die Beleuchtung, das Gesicht des Toten. Es ist unsagbar einfältig und erhaben, was sich hier vor meinen Blicken ausbreitet: die sinnlose, grausame, bedingungslose Leidenschaft. Rings um den Sarg beten slowakische Bäuerinnen mit dem eintönigen, klagenden Singsang eines griechischen Chors.
    Ein Augustvormittag in Gardone. Ich gehe von D’Annunzios Garten zum See hinunter, aus den Kulissen dieses schlauen und raffinierten Wahnsinns, aus dem süßlich-geilen Chaos dieser grandiosen Possenreißerei, rezitierenden Großmannssucht und hanebüchenen Erhabenheit. Alternde Charakterdarsteller träumen wohl von solchen Kulissen an ihrem Lebensabend. Aber dieser Mann hat wirklich in diesen Kulissen gelebt, und die Landschaft, die er sich für seine schusselige Einsamkeit, sein prahlerisches Eremitendasein ausgedacht hatte, stellte sich ihm gehorsam zur Verfügung.
    Am Ufer des Sees die schwüle, duftende Hitze eines Treibhauses, in dem man Pflanzen, fleischfressende Blumen und riesige Seerosen von den Südseeinseln und aus der Äquatorgegend bei künstlicher Wärme aufzieht und züchtet. Alles giert und schmachtet nach Hitze und Licht, dürstend, mit keuchendem Hunger, lechzendem Durst: die Olivenbäume, die Kakteen, die zwischen den Uferfelsen wild wachsenden grell leuchtenden Blumen. Als hätte ich in meiner Geistesabwesenheit die Tür zum Treibhaus der Unterwelt geöffnet. In dieser dampfenden, duftenden Hitze erschlafft alles, selbst die Steine und die Erde atmen den Duft der Wollust. So muss es im Garten Eden geduftet haben, Sekunden nach dem Sündenfall. Die Erde dampft nur so vor Sünde, als gäbe es auch noch am jenseitigen Ufer, wo die Tugend nicht mehr blüht, etwas Süßes und Gutes.
    Ich atme diesen feuchten Duft in tiefen, keuchenden Zügen. Mit achtzig Kilometern in der Stunde rase ich weiter, Richtung Riva.
    Sz ., der Falschspieler, der zwei Wochen vor der Matura mit Siebzehnundvier acht seiner Klassenkameraden um ihr ganzes Geld brachte. Das waren wilde Schlachten, Nachmittag für Nachmittag, in der Bude eines unserer Kameraden. Unsere Kleider, unsere Sachen waren längst in die Pfandleihe gewandert. Sz . gewann jedes Mal, und wir liefen um unser Geld, unsere Wertsachen. Aber eines Nachmittags wurde er entlarvt: Er spielte mit gezinkten Karten.
    Schaudernd vor Ergriffenheit hielten wir Femegericht über ihn. Er war ein armer Junge, nur seine verwitwete Mutter war noch am Leben, er gab Stunden, um sich über Wasser zu halten. Wir brachen ihm nicht das Genick, das Urteil lautete schlicht: Ächtung und Verachtung.
    Fünfundzwanzig Jahre später kommt mir der Falschspieler auf der Straße entgegen. Ein ergrauter, korpulenter, ehrwürdiger Herr. Er erkennt mich nicht, erwidert verwirrt meinen forschenden Blick. Wir gehen stumm aneinander vorbei, und ich spüre, dass uns, den Richter wie den Angeklagten, nun die wirkliche Strafe ereilt hat, die Strafe, die sowohl das Verbrechen als auch das Urteil aufhebt. Diese Strafe lautet schlicht: Wir werden alt.
    Als mein Vater starb , ging ich vom Sterbezimmer sofort in den Krankenhausflur, um eine Zigarette zu rauchen. Das Gleiche tat ich, als mein Sohn starb . Ich bin wohl wirklich ein starker Raucher.
    Ein Nachmittag bei Barbusse . Er wohnt in der Nähe des Champs de Mars, in der bürgerlichen Wohnung eines Mietshauses der Jahrhundertwende. Baumlang, äußerlich ein Don Quijote, traurig, sympathisch und unbedeutend. Er schreibt gerade ein Buch über Zola. Ein langes Gespräch über Krieg und Frieden – ein Gespräch, das nur dazu führt, dass uns beim Abschied klar ist: Es gibt nichts, aber auch gar nichts, was wir einander zu sagen hätten.
    Er gehört zu jenen Menschen, mit denen man immer gern beisammen ist, weil man aus ihren Worten heraushört, dass sie nicht lügen, nicht heucheln können. Er gehört zu jenen Menschen, von denen man immer mit Erleichterung Abschied nimmt: als sei man einer großen moralischen Gefahr entronnen.
    Die Krankheit. Sie ist gewiss auch eine Strafe, die man ruhig, möglichst ohne zu revoltieren, absitzen muss.
    Und man muss wissen, dass man keinen Tag früher entlassen wird. Das wurde dir beschieden, das hast du verdient. Und wissen, dass auch das seinen genauen Platz, seine

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