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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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die ein bestimmtes Lebensgefühl in uns weckt, eine Zeile in einem Buch, irgendeine Nichtigkeit. Und doch ist diese Nichtigkeit alles.
    Morgans Voyage schlage ich – trotz meiner Vorsätze – etwa auf Seite 200 zu und schicke den Roman zurück an den, der ihn mir geliehen hat. Es gibt auch in der Literatur eine Art aufrichtige Langeweile, die schlimmer als jede Sünde ist. Die Dauer meines Lebens kenne ich nicht, der Umfang dieses Buches beträgt jedoch fünfhundert Seiten; beides lässt sich nicht miteinander vereinbaren.
    Jede Zeile, die ich schreibe – ob Zeitungsartikel, Abhandlung, Romanausschnitt, selbst diese Tagebucheintragungen –, weckt in mir ein Gefühl großer Beklemmung und Unruhe. Dieses Gefühl vergeht auch mit den Jahren, der Erfahrung, der in diesem Handwerk – und was für ein »Handwerk!« – gesammelten Praxis nicht, es nimmt eher zu. In der Zeit, die ich meiner Arbeit widme, empfinde ich alles als störend und beunruhigend, ein Telefongespräch wühlt mich auf, und das Bewusstsein, dass Besuch kommen könnte, dass ich mit meinem Tagespensum »rechtzeitig« fertig werden muss, wirkt sich geradezu vernichtend auf mich aus, vergleichbar der Angst vor den Schmerzen eines körperlichen Anfalls. Wenn diejenigen, die mich für einen »souveränen« und »eloquenten Plauderer« halten, wüssten, welch hohen Preis diese Souveränität und Eloquenz haben! … Ich lebe nur noch zwischen den Zeilen meiner Arbeit – und wie unvollkommen, wie dürftig, wie furchtbar dürftig diese Zeilen doch sind! –, alles andere ist bloße Vorbereitung, bloßes Kräftesammeln für diese paar Zeilen. Lektüre, Ernährung, Schlaf, der ganze wunderbare Ablauf des Lebens ist nur Beiwerk und Training für die Arbeit, und wird es immer mehr. Es ist zum Sterben.
    Ich weiß gar nicht, worüber ich mehr staunen soll: über den Kalender, der genau weiß und ankündigt, dass Pankraz, Servaz und Bonifaz Frost im Mai bescheren, oder über die Natur, die uns dieses windig-regnerische Phänomen pünktlich auf den Tag beschert? Über die Präzision der Beobachtung oder über das minutengenaue Eintreffen des Phänomens? In der Nacht keimt der Nordwind auf, am Morgen biegen sich die Bäume, ringen vor meinem Fenster schon entsetzt mit den Böen der Eisheiligen. Welch große Ordnung doch in der Welt herrscht, jenseits der hektischen Welt der Menschen! – ja vielleicht sogar in der hektischen, schwer verständlichen, selbstherrlichen Welt der Menschen?
    Dostojewski quält mich, als sei ich mit einem Geisteskranken zusammengesperrt – einem Geisteskranken, der einst womöglich heiliggesprochen wird. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass diese anarchistische Schrankenlosigkeit die Perspektive des Menschen sein soll – ich bin Europäer, ich glaube auch an die Maße und die Angaben auf den Landkarten.
    Maiwind. Als lüftete man diesen schwülen, moderigen, muffigen Winkel aus, diese Welt.
    Wir müssen Berta, die alte Köchin, entlassen, denn sie vertreibt uns die Zimmermädchen im Zweiwochentakt: Mit erstaunlichem Instinkt konstruiert sie ihre Vorwürfe, die stets erfunden und ungerechtfertigt sind und ihr, der alten Jungfer, Gelegenheit bieten, die Beleidigte zu spielen und ihre Zimmer- und Arbeitskolleginnen durch ihr eifersüchtiges Liebesbedürfnis zu verdrießen. Das führt zu einer angespannten Stimmung im Haus, und deshalb müssen wir eine andere Stelle für sie finden. »Ich habe eben eine ungute Natur!«, sagt sie ruhig und einsichtig, als ich sie zur Rede stelle; so als sei es eine unabänderliche Tatsache, als sage ein Einbeiniger: »Ich bin nun einmal lahm.« Ihre Religiosität ist eine fixe Idee, sie beichtet und betet sich jeden Sonntag von ihren Schuldgefühlen frei. Sie ist böswillig und empfindlich wie alle egoistischen und ungeduldigen, unter Liebesbedürfnis leidenden Menschen. Und ich vermag durch Argumente und Aufklärung nicht einmal den Charakter einer Köchin zu ändern: Was soll ich mir also von der Menschheit erhoffen?
    Der Widerwille, den ich gegen seinen Stil empfinde, schmilzt in der lodernden Hitze des Werkes wie Blei in der Glut eines Kessels. Dostojewski ringt jeden Widerstand nieder: Das ist jenes »Mehr als Literatur«, das keine Gegenargumente gelten lässt. Man muss sich dazu bekennen oder davor fliehen. Und eben darüber zerbricht sich die Welt nun den Kopf, wenn sie die Wirklichkeit, die in Dostojewskis Werk zum Leben erwacht ist, beurteilen soll; etwas anderes bleibt dem

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