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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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wäre, zu schweigen.
    Jener Satz in den Brüdern Karamasow , der das ganze monströse Gebilde aufrecht hält: »Gehen Sie zu den Menschen und bekennen Sie.«
    Das sagt der Starez, als er seinen Ordensbrüdern vom großen Erlebnis seiner Jugend berichtet, von dem Mörder, der eine Frau aus Eifersucht getötet und dann vierzehn Jahre lang unter diesem Geheimnis gelitten hat. In diesem Satz liegt der tiefste Sinn jedes menschlichen Verhaltens, und Dostojewski hat ihn ausgesprochen: Man gehe zu den Menschen und bekenne.
    Am Nachmittag bei General Z .: ein überaus freundliches und liebenswertes Haus, eine Weltsicht und Lebensauffassung, die die durchschnittliche Bildung eines Offiziers weit übertrifft. Nach dem Höflichkeitsbesuch schleppe ich mich todmüde nach Hause; jede nicht auf echter Leidenschaft beruhende Begegnung mit einem Menschen lässt mich völlig erschöpft zurück. Ich bin wie jemand, der es eilig hat und nicht mehr versteht, warum er überhaupt noch über etwas anderes als das Wesentliche spricht.
    Ich habe das Buch der Kräuter gelesen und immer wieder mit dem Kopf genickt, wie jemand, der etwas gutheißt. Dieses Buch ist viel klüger, mutiger und menschlicher, als ich es bin. Ich habe viel daraus gelernt. Ja, so müsste man leben, denken, dem Leben und dem Tod begegnen … Ich vermute nun, dass unser Werk größer, vollkommener und stärker ist, als wir selbst sind. So wie in der Physik das Ganze mehr als die Summe der Teile ist, die das Ganze bilden, so hat auch unser Lebenswerk einen Mehrwert, den rätselhaften Mehrwert unseres Lebens und Wesens. Es ist ein interessantes Buch, ich werde es öfter aufblättern: Vielleicht kann es mir helfen, mir armem, elendem, vergänglichem Menschen, der es geschrieben hat.
    Die ungarische Ausgabe von Delacroix’ Tagebüchern in Auszügen. Ein großer Künstler, der sich in einen vollkommenen Dummkopf verwandelt, sobald er von etwas anderem als von der Malerei redet: Shakespeare und Goethe etwa hält er für Dilettanten mit beschränktem Horizont verglichen mit Corneille und Racine, selbst die Genialität spricht er ihnen ab. Mutige, treffende, überraschende Bemerkungen über Begabung und die Kunstgattungen. Was er über das Genie und die Leidenschaft sagt, ist wahr. Ohne Leidenschaft gibt es keinen schöpferischen Akt; aber lange in der Leidenschaft zu leben ist nicht möglich.
    Ein glücklicher, echter Maler, der an den Farben der Welt erblindet; ein glücklicher Künstler, der dort Probleme der Farbe sieht, wo der Schriftsteller das Schicksal erkennt!
    Schirokko. Der heiße Wind saust durch die Poren der Haut, lässt jeden Nerv einzeln erschaudern, zwickt und brennt. Ich schleppe mich mit schmerzenden, zuckenden Nerven durch die Straßen, stehe in überfüllten Straßenbahnen. Als brüllte das heiße, geisteskranke Schicksal.
    Ehrenkonvent an der Akademie der Wissenschaften . Ich nehme neben dem sechsundachtzigjährigen Professor A . Platz, vor mir sitzt der hoch aufgeschossene Herr Cs ., der immer noch die Epigramme Martials übersetzt, allerdings schamhaft; die pikanten Passagen lässt er weg. Professor A . mustert Herrn Cs . neugierig und neidisch, wendet sich an mich: »Er hält sich gut«, räumt er säuerlich ein und deutet auf ihn: »Vierundachtzig.« Wie eine Schauspielerin, wenn sie ihre Rivalin begutachtet.
    Und dennoch, wie viel Anstand herrscht noch hier, wie sehr ist die Akademie noch heute eine Festung und ein Bollwerk, wie »fortschrittlich«, geradezu revolutionär ist sie doch verglichen mit allerlei Formen junger Reaktion … Hier, zwischen diesen Mauern, unter diesen Achtzigjährigen, fühle ich mich heimisch.
    X . hat viele Bücher gelesen und einige passable Kapitel geschrieben. Jetzt gibt er sich affektiert: Er schreibt mit großem Elan und interpretiert, konnotiert, verteidigt, erläutert, begründet, belegt, bezeugt, was er geschrieben hat, versiegelt es wie eine Bulle. Wenn er es mit der Beweisführung so eilig hat, wann wird er überhaupt Zeit finden, die Tat zu begehen?
    Shakespeares Tragödien in Prosa, auf Französisch, in der Übersetzung von Pierre Messiaen. Die Übersetzung, dieser seiner Verse und Musik entkleidete Shakespeare-Text, ist wie das Röntgenbild eines Menschen. Der Zauber seines Wesens geht verloren, aber das Röntgenbild deckt auch manche Geheimnisse auf.
    Die der Übersetzung vorangestellte Studie versammelt detektivisches Material über Shakespeares Katholizismus und seine pessimistische Phase (von 1600 bis 1608,

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