Tagebücher: 1909-1923
aus dem Innern eines Gebäudes kam, an den Hals und küßte und drückte mich. Er hatte einen mir aus der Erinnerung gut bekannten altmodischen, kurzen, im innern sophaartig gepolsterten Kaiserrock an. “Dieser Dr. von Leyden! Das ist doch ein ausgezeichneter Mensch” rief er immer wieder. Er hatte ihn aber durchaus nicht als Arzt besucht sondern nur als kennenswerten Mann. Ich hatte ein wenig Angst, daß ich auch zu ihm hineinmüßte, es wurde aber nicht verlangt. Links hinter mir sah ich in einem förmlich mit lauter Glaswänden umgebenen Zimmer einen Mann sitzen, der mir den Rücken zuwandte. Es zeigte sich, daß dieser Mann der Sekretär des Professors war, daß mein Vater tatsächlich nur mit ihm gesprochen hatte und nicht mit dem Professor selbst, daß er aber irgendwie durch den Sekretär hindurch die Vorzüge des Professors leibhaftig erkannt hatte, so daß er in jeder Hinsicht zu einem Urteil über den Professor genau so berechtigt war, wie wenn er persönlich mit ihm gesprochen hätte.
Lessingteater: Die Ratten
Brief an Pick, weil ich ihm nicht geschrieben habe. Karte an Max, aus Freude über Arnold Beer.
9. V. (1912) Gestern abend mit Pick im Kaffeehaus.
Wie ich mich gegen alle Unruhe an meinem Roman festhalte, ganz wie eine Denkmalsfigur die in die Ferne schaut und sich am Block festhält.
Trostloser Abend heute in der Familie. Die Schwester weint wegen Ihrer neuen Schwangerschaft, der Schwager braucht Geld für die Fabrik, der Vater ist aufgeregt wegen der Schwester, wegen des Geschäfts und wegen seines Herzens, meine unglückliche zweite Schwester, die über alles unglückliche Mutter und ich mit meinen Schreibereien.
22. Mai (1912) Gestern wunderschöner Abend mit Max. Wenn ich mich liebe, liebe ich ihn noch stärker. Lucerna. Madame, la mort von Rachilde. Traum eines Frühlingsmorgens. Die lustige Dicke in der Loge. Die wilde mit der rohen Nase, dem aschebestaubten Gesicht, den Schultern die sich aus dem übrigeng nicht dekolltierten Kleide drängten, dem hin und her gezerrten Rücken, der einfachen weißgetupften blauen Bluse, dem Fechterhandschuh, der immer zu sehen war, da sie die Rechte meistens auf dem rechten Schenkel der neben ihr sitzenden lustigen Mutter ganz oder auf den Fingerspitzen ruhen ließ. Die über den Ohren gedrehten Zöpfe, nicht das reinste hellblaue Band auf dem Hinterkopf, das Haar vorn im dünnen aber dichten Büschel geht rund um die Stirn und vorn weit über sie hinaus. Ihr warmer, faltiger, leichter, nachlässig vor lauter Schmiegsamkeit hängender Mantel, als sie bei der Kassa unterhandelte.
23 (Mai 1912) Gestern: hinter uns fiel ein Mann vor Langweile vom Sessel. Vergleich von Rachilde: die sich an der Sonne freuen und von den andern Freude verlangen, sind wie Betrunkene die in der Nacht von einer Hochzeit kommen und ihnen Entgegenkommende zwingen, auf das Wohl der unbekannten Braut zu trinken.
Brief an Weltsch, ihm das Du angetragen
Gestern guter Brief an Onkel Alfred wegen der Fabrik. Vorgestern Brief an Löwy
Jetzt abends vor Langweile dreimal im Badezimmer hintereinander mir die Hände gewaschen.
Angst vor dem Alleinsein am Pfingstsonntag und Montag mit der unglaublichen Begründung, daß die Eltern nach Franzensbad fahren.
Das Kind mit den zwei kleinen Zöpfchen, bloßem Kopf, losen weißpunktierten rotem Kleidchen, bloßen Beinen und Füßen, das mit einem Körbchen in der einen, mit einem Kistchen in der andern Hand zögernd den Fahrdamm beim Landesteater berschritt.
Das anfängliche Rückenspiel in Madame la mort nach dem Grundsatz: Der Rücken eines Dilettanten ist unter gleichen Verhältnissen so schön wie der Rücken eines guten Schauspielers. Die Gewissenhaftigkeit der Leute!
In den letzten Tagen ausgezeichneter Vortrag von Davis Trietsch über Kolonisation in Palästina.
25 (Mai 1912) Schwaches Tempo, wenig Blut.
27 (Mai 1912) Gestern Pfingstsonntag, kaltes Wetter, nicht schöner Ausflug mit Max und Weltsch.
Abend Kaffeehaus, Werfel gibt mir “Besuch aus dem Elysium”
Ein Teil der Niklasstraße und die ganze Brücke dreht sich gerührt nach einem Hund um, der laut bellend ein Automobil der Rettungsgesellschaft begleitet. Bis der Hund plötzlich abläßt, umkehrt und sich als ein gewöhnlicher fremder Hund zeigt, der mit der Verfolgung des Wagens nichts besonderes meinte.
1 Juni 1912 Nichts geschrieben.
2 Juni (1912) Fast nichts geschrieben.
Gestern Vortrag Dr. Soukup im
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