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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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eine große Krankheit erkennen. Auch die Verbindung zwischen Magen und Mund ist teilweise gestört, ein guldengroßer Deckel steigt entweder auf und ab oder liegt unten und strahlt mit einer sich verbreitenden, die Brust an der Oberfläche überziehender, leicht drückender Wirkung empor.
    weiter in Radotin: lud sie ein herunterzukommen. Die erste Antwort war ernst, trotzdem sie bisher mit dem ihr anvertrauten Mädchen zu mir hinüber so gekichert und kokettiert hatte, wie sie es von dem Augenblick an, wo wir bekannt waren, nie gewagt hätte. Wir lachten dann viel zusammen, trotzdem ich unten und sie oben beim offenen Fenster fror. Sie drückte ihre Brüste an die gekreuzten Arme und alles mit offenbar gebeugten Knien an die Fensterbrüstung. Sie war 17 Jahre alt und hielt mich für 15 – 16 jährig, wovon sie durch unser ganzes Gespräch nicht abgebracht wurde. Ihre kleine Nase gieng ein wenig schief und warf daher einen ungewöhnlichen Schatten auf die Wange, der mir allerdings nicht helfen könnte, sie wieder zu erkennen. Sie war nicht aus Radotin, sondern aus Chuchle (die nächste Station gegen Prag) was sie nicht vergessen lassen wollte. Dann Spaziergang mit dem Contoristen, der auch ohne meine Reise in unserem Geschäft geblieben wäre, im Dunkel auf der Landstraße aus Radotin heraus und zurück zum Bahnhof. Auf der einen Seite wüste von einer Cementfabrik für ihren Kalksandbedarf ausgenützte Anhöhen. Alte Mühlen. Erzählung von einer durch Windhose aus der Erde gequirlten Pappel sammt ihren zuerst steil in die Erde gehenden dann sich ausbreitenden Wurzeln. Gesicht des Contoristen: teigartiges rötliches Fleisch auf starken Knochen, sieht müde, aber in seinen Grenzen kräftig aus. Staunt nicht einmal im Tonfall darüber, daß wir hier zusammen spazieren gehn. Auf einem großen von einer Fabrik vorsichtsweise angekauften vorläufig brachgelassenen, mitten im Ort liegenden, von stark aber nur stellenweise von elektr. Licht beworfenen Fabriksgebäuden umgebenen Feld. Klarer Mond, von Licht erfüllter, daher wolkiger Rauch aus einem Kamin. Zugsignale. Rascheln von Ratten neben dem langen das Feld kreuzendem gegen den Willen der Fabrik von der Bevölkerung eingetretenen Weg.

      Beispiele für die Kräftigung, die ich diesem im Ganzen doch geringfügigem Schreiben verdanke:
    Montag, den 16. war ich mit Löwy im Nationalteater bei “Dubrovnicka trilogie”. Stück und Aufführung war trostlos. Im Gedächtnis bleibt nur aus dem ersten Akt der schöne Klang einer Kaminuhr; das Singen der Marseillaise einziehender Franzosen vor dem Fenster, immer wieder wird das verhallende Lied von den neu Herankommenden aufgenommen und steigt an; ein schwarzgekleidetes Mädchen zieht ihren Schatten durch den Lichtstreifen, den die untergehende Sonne auf das Parkett legt. Aus dem 2ten Akt bleibt nur der zarte Hals eines Mädchens, der aus rotbraunbekleideten Schultern zwischen Puffärmeln zum kleinen Kopf sich dehnt und spannt. Aus dem dritten Akt der zerdrückte Kaiserrock, die dunkle Phantasieweste mit goldener quergezogener Uhrkette eines alten gebückten Nachkommen der früheren Gosparen. Viel ist das also nicht. Außerdem gestand mir L. seinen Tripper; dann berührte mein Haar das seine als ich seinem Kopf mich zuneigte, ich bekam Furcht wegen immerhin möglicher Läuse; die Sitze waren teuer, ich hatte als schlechter Wohltäter hier Geld herausgeworfen, während er in Not war; endlich langweilte er sich noch etwas mehr als ich. Kurz ich hatte wieder das Unglück bewiesen, daß alle Unternehmungen haben, die ich allein anfange. Während ich aber sonst mich mit diesem Unglück untrennbar vereinige, alle frühern Unglücksfälle zu mir herauf, alle späteren zu mir herunterziehe, war ich diesmal fast vollständig unabhängig, ertrug alles als etwas einmaliges ganz leicht und fühlte sogar zum erstenmal im Teater meinen Kopf als einen Zuschauerkopf aus dem gesammelten Dunkel der Fauteuils und Körper in ein besonderes Licht hochgehoben, unabhängig von der schlechten Veranlassung dieses Stückes und dieser Aufführung.

      Ein zweites Beispiel: Gestern abend reichte ich meinen beiden Schwägerinnen in der Mariengasse gleichzeitig beide Hände mit einer Geschicklichkeit, wie wenn es zwei rechte Hände wären und ich eine Doppelperson.
      21. (Oktober 1911) Ein Gegenbeispiel: Meinem Chef kann ich, wenn er mit mir Bureauangelegenheiten beräth (heute die Karthotek) nicht lange in die Augen schauen, ohne daß in meinen

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