Tagebücher: 1909-1923
ihr dabei zu helfen. Das würde ich mir wieder wünschen, weil ich dann schwach wäre, daher von allem überzeugt, was die Mutter täte und mit der deutlicheren Genußfähigkeit des Alters kindliche Freuden haben könnte. Gestern fiel mir ein, daß ich die Mutter nur deshalb nicht immer so geliebt habe, wie sie es verdiente und wie ich es könnte, weil mich die deutsche Sprache daran gehindert hat. Die jüdische Mutter ist keine “Mutter”, die Mutterbezeichnung macht sie ein wenig komisch (nicht sich selbst, weil wir in Deutschland sind) wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt, “Mutter” ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch sondern auch fremd. Mama wäre ein besserer Name, wenn man nur hinter ihm nicht “Mutter” sich vorstellte. Ich glaube, daß nur noch Erinnerungen an das Ghetto die jüdische Familie erhalten, denn auch das Wort Vater meint bei weitem den jüdischen Vater nicht.
Heute stand ich vor dem Rat Lederer, der sich unerwartet, ungebeten, kindisch, lügenhaft lächerlich und zum Ungeduldigwerden nach meiner Krankheit erkundigte. Wir hatten schon lange oder vielleicht noch überhaupt nicht so intim gesprochen, da fühlte ich, wie sich mein, von ihm noch nie so genau betrachtetes Gesicht für ihn in falsche, schlecht aufgefaßte aber ihn jedenfalls überraschende Partien eröffnete. Für mich war ich nicht zu erkennen. Ihn kenne ich ganz genau.
Heft 2
Als es schon unerträglich geworden war – einmal gegen Abend im November – und ich über den schmalen Teppich meines Zimmers wie in einer Rennbahn einherlief, durch den Anblick der beleuchteten Gasse erschreckt wieder wendete und in der Tiefe des Zimmers im Grund des Spiegels doch wieder ein neues Ziel bekam und aufschrie, um nur den Schrei zu hören, dem nichts antwortet und dem auch nichts die Kraft des Schreiens nimmt, der also aufsteigt ohne Gegengewicht und nicht aufhören kann, selbst wenn er verstummt, da öffnete sich aus der Wand heraus die Tür, so eilig, weil doch Eile nötig war und selbst die Wagenpferde unten auf dem Pflaster wie wildgewordene Pferde in der Schlacht irgendwo auf den gespreizten Hinterbeinen die Gurgeln preisgegeben sich erhoben.
Als kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Corridor, in dem die Lampe noch nicht brannte und blieb wie ein Balletmädchen auf den Fußspitzen stehn, auf einem unmerklich schaukelnden Fußbodenbalken. Von der Dämmerung des Zimmers gleich geblendet, wollte es mit dem Gesichte rasch in seine Hände, beruhigte sich aber unversehens mit dem Blick zum Fenster, vor dessen Kreuz der hochgetriebene Dunst der tiefen Straßenbeleuchtung endlich unter dem Dunkel liegen blieb. Mit dem rechten Ellbogen hielt sich das Kind vor der offenen Tür aufrecht an der Zimmerwand und ließ den Luftzug von draußen um die Gelenke der Füße streichen auch den Hals, auch die Schläfen entlang.
Ich sah ein wenig hin, dann sagte ich “Guntag” und nahm meinen Rock vom Ofenschirm, weil ich nicht so halbnackt dastehn wollte. Ein Weilchen lang hielt ich den Mund offen, damit mich die Aufregung durch den Mund verlasse. Ich hatte schlechten Speichel in mir, im Gesicht zitterten mir die Augenwimpern, in der 1. Stirnecke fühlte ich eine Spannung wie von einem schmerzlosen Flintenschuß, kurz es fehlte mir nichts, als dieser allerdings erwartete Besuch.
Das Kind stand noch an der Wand auf dem gleichen Platz, es hatte die rechte Hand an die Mauer gepreßt und konnte ganz rotwangig dessen nicht satt werden, daß die weißgetünchte Wand grobkörnig war und die Fingerspitzen rieb, die es immer wieder anschaute.
Ich sagte: Wollten Sie auch tatsächlich zu mir? Ist es kein Irrtum? Nichts leichter als ein Irrtum in diesem großen Hause. Ich heiße so und so, wohne im dritten Stock in Zimmer Nummer 11. Bin ich also der, den Sie besuchen wollten?
“Ruhe, Ruhe sagte das Kind über die Schulter weg alles ist schon richtig. “
“Dann kommen Sie weiter ins Zimmer herein, ich möchte die Türe schließen”
“Die Türe habe ich jetzt gerade geschlossen, machen Sie sich keine Mühe, beruhigen Sie sich überhaupt. “
Reden Sie nicht von Mühe. Aber auf diesem Gange wohnt eine Menge Leute, alle sind natürlich meine Bekannten; die meisten
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