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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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einem neuen Tone angesprochen zu werden, von neuem anfangen muß, in ihn hineinzureden. Eingeleitet wurde das Gespräch damit, daß auf der andern Gassenseite ein anderer Tullach wohnt, beschlossen wurde es bei der Tür mit seiner Verwunderung über meinen leichten Anzug bei der Kälte. Bezeichnend für meine ersten Hoffnungen und schließlichen Mißerfolg. Ich verpflichtete ihn aber nachmittag zum Vater zu kommen. Meine Argumentation stellenweise zu abstrakt und formell. Fehler die Frau nicht ins Zimmer gerufen zu haben.
    Nachmittag nach Radotin, um den Contoristen zu halten. Komme dadurch um das Zusammensein mit Löwy, an den ich fortwährend denke. Im Waggon: Nasenspitze der alten Frau mit fast noch jugendlich gespannter Haut. Endet also die Jugend auf der Nasenspitze und fängt dort der Tod an? Das Schlucken der Passagiere das den Hals heruntergleitet, die Mundverbreiterung als Zeichen daß sie die Eisenbahnfahrt, die Zusammensetzung der andern Passagiere, ihre Sitzordnung, die Temperatur im Waggon, selbst das Heft des Pan, das ich auf dem Knie habe und das einige von Zeit zu Zeit anschauen (da es immerhin etwas ist, was sie im Coupee unmöglich haben voraussehn können) als einwandfrei, natürlich, unverdächtig beurteilen, wobei sie noch glauben, daß alles auch viel ärger hätte sein können. Auf und ab im Hof des Herrn Haman, ein Hund legt eine Pfote auf meine Fußspitze, die ich schaukle. Kinder, Hühner, hie und da Erwachsene. Ein zeitweise auf der Pawlatsche heruntergebeugtes oder hinter einer Tür sich versteckendes Kindermädchen hat Lust auf mich. Ich weiß unter ihren Blicken nicht, was ich gerade bin, ob gleichgültig, verschämt, jung oder alt, frech oder anhänglich, Hände hinten oder vorn haltend, frierend oder heiß, Tierliebhaber oder Geschäftsmann, Freund des Haman oder Bittsteller, den Versammlungsteilnehmern, die manchmal in einer ununterbrochenen Schleife aus dem Lokal ins Pissoir und zurückgehn überlegen oder infolge meines leichten Anzugs lächerlich, ob Jude oder Christ u.s.w. Das Herumgehn, Naseabwischen, hie und da im Pan lesen, furchtsam mit den Augen die Pawlatsche meiden, um sie plötzlich als leer zu erkennen, dem Geflügel zuschauen, sich von einem Mann grüßen zu lassen, durch das Wirtshausfenster die flach und schief neben einander gestellten Gesichter der einem Redner zugewendeten Männer zu sehn, alles hilft dazu. Hr. Haman, der von Zeit zu Zeit aus der Versammlung kommt, und den ich bitte, seinen Einfluß auf den Contoristen, den er in unser Geschäft gebracht hat, für uns auszunützen. Schwarzbrauner Bart, Wangen und Kinn umwachsend, schwarze Augen, zwischen Augen und Bart die dunklen Tönungen der Wangen. Er ist Freund meines Vaters, ich kannte ihn schon als Kind und die Vorstellung, daß er Kaffeeröster war, hat mir ihn immer noch dunkler und männlicher gemacht als er war.
      17. X 11 Nichts bringe ich fertig, weil ich keine Zeit habe und es in mir so drängt. Wenn der ganze Tag frei wäre und diese Morgenunruhe in mir bis zum Mittag steigen und bis zum Abend sich ermüden könnte dann könnte ich schlafen. So aber bleibt für diese Unruhe nur höchstens eine Abenddämmerungstunde, sie verstärkt sich etwas, wird dann niedergedrückt und gräbt mir die Nacht unnütz und schädlich auf. Werde ich es lange aushalten? Und hat es einen Zweck es auszuhalten, werde ich denn Zeit bekommen?

      Wenn ich an diese Anekdote denke: Napoleon erzählt bei der Hoftafel in Erfurt: Als ich noch bloßer Lieutenant im 5. Regiment war.. (die königlichen Hoheiten sehn einander betreten an, Napoleon bemerkt es und korrigiert sich) als ich noch die Ehre hatte, bloßer Lieutenant…; schwellen mir die Halsadern vor leicht nachgefühltem, künstlich in mich eindringenden Stolz.

      weiter in Radotin: ich gieng dann allein frierend im Wiesengarten herum, erkannte dann im offenen Fenster das mit mir auf diese Seite des Hauses gewanderte Kindermädchen –

    20. (Oktober 1911) Den 18 bei Max, über Paris geschrieben. Schlecht geschrieben ohne eigentlich in das Freie der eigentlichen Beschreibung zu kommen, die einem den Fuß vom Erlebnis löst. Ich war auch dumpf nach der großen Erhebung des vorigen Tages, der mit der Vorlesung Löwys geendet hatte. Am Tage war ich noch in keiner außergewöhnlichen Verfassung gewesen, war mit Max seine von Gablonz angekommene Mutter holen, war mit ihnen im Kaffeehaus und dann bei Max, der mir aus dem “Mädchen von Perth” einen Zigeunertanz

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