Tagebücher: 1909-1923
Blick gegen allen meinen Willen eine leichte Bitterkeit kommt, die entweder meinen oder seinen Blick abdrängt. Seinen Blick flüchtiger aber öfter, da er sich des Grundes nicht bewußt ist, jedem Anreiz wegzuschauen nachgibt, gleich aber den Blick zurückkehren läßt, da er das Ganze nur für eine augenblickliche Ermattung seiner Augen hält. Ich wehre mich dagegen stärker, beschleunige daher das zickzackartige meines Blickes, schaue noch am liebsten seine Nase entlang und in die Schatten zu den Wangen hin, halte das Gesicht in seiner Richtung oft nur mit Hilfe der Zähne und der Zunge im geschlossenen Mund, wenn es sein muß, senke ich zwar die Augen aber niemals tiefer als bis zu seiner Kravatte, bekomme aber gleich den vollsten Blick, wenn er die Augen wegwendet und ich ihm genau und ohne Rücksicht folge.
Die jüdischen Schauspieler: Frau Tschissik hat Vorsprünge auf den Wangen in der Nähe des Mundes. Entstanden teils durch eingefallene Wangen infolge der Leiden des Hungers, des Kindbetts, der Fahrten und des Schauspielens teils durch ruhende ungewöhnliche Muskeln die sich für die Schauspielbewegungen ihres großen ursprünglich sicher schwerfälligen Mundes entwickeln mußten. Als Sulamith hatte sie meist die Haare gelöst, die ihre Wangen verdeckten, so daß ihr Gesicht manchmal wie ein Mädchengesicht aus früherer Zeit aussah. Sie hat einen großen, knochigen, mittelstarken Körper und ist fest geschnürt. Ihr Gang bekommt leicht etwas feierliches, da sie die Gewohnheit hat, ihre langen Arme zu heben, zu strecken und langsam zu bewegen. Besonders als sie das jüdische Nationallied sang, in den großen Hüften schwach schaukelte und die parallel den Hüften gebogenen Arme auf und ab bewegte mit ausgehöhlten Händen, als spiele sie mit einem langsam fliegenden Ball.
22. (Oktober 1911) Gestern bei den Juden “Kol-Nidre” von Scharkansky ziemlich schlechtes Stück mit einer guten witzigen Briefschreibscene, einem Gebet der nebeneinander mit gefalteten Händen aufrecht stehenden Liebenden, dem Anlehnen des bekehrten Großinquisitors an den Vorhang der Bundeslade, er steigt die Stufe hinauf und bleibt dort den Kopf geneigt die Lippen am Vorhang stehn, hält das Gebetbuch vor seine klappernden Zähne. Zum erstenmal an diesem vierten Abend meine deutliche Unfähigkeit einen reinen Eindruck zu bekommen. Schuld daran war auch unsere große Gesellschaft und die Besuche beim Tisch meiner Schwester. Trotzdem, so schwach hätte ich nicht sein dürfen. Mit meiner Liebe zur Frau Tschissik, die nur durch Max neben mir saß, habe ich mich elend aufgeführt. Ich werde aber wieder hinaufkommen, schon jetzt ist es besser.
Frau Tschissik (ich schreibe den Namen so gerne auf) neigt bei Tisch auch während des Gansbratenessens gern den Kopf, man glaubt unter ihre Augenlider mit dem Blick zu kommen, wenn man zuerst vorsichtig die Wangen entlangschaut und dann sich kleinmachend hineinschlüpft, wobei man die Lider gar nicht erst heben muß, denn sie sind gehoben und lassen eben einen bläulichen Schein durch, der zu dem Versuch verlockt. Aus der Menge ihres wahren Spiels kommen hie und da Vorstöße der Faust, Drehungen des Armes, der unsichtbare Schleppen in Falten um den Körper zieht Anlegen der gespreizten Finger an die Brust weil der kunstlose Schrei nicht genügt. Ihr Spiel ist nicht mannigfaltig: das erschreckte Blicken auf ihren Gegenspieler, das Suchen eines Auswegs auf der kleinen Bühne, die sanfte Stimme, die in geradem kurzen Aufsteigen nur mit Hilfe größeren innerlichen Widerhalls ohne Verstärkung heldenmäßig wird, die Freude, die durch ihr sich öffnendes, über die hohe Stirn bis zu den Haaren sich ausbreitendes Gesicht in sie dringt, das Sichselbstgenügen beim Einzelgesang ohne Hinzunahme neuer Mittel, das Sichaufrichten beim Widerstand, das den Zuschauer zwingt, sich um ihren ganzen Körper zu kümmern; und nicht viel mehr. Aber da ist die Wahrheit des Ganzen und infolgedessen die Überzeugung daß ihr nicht die geringste ihrer Wirkungen genommen werden kann.
Das Mitleid, das wir mit diesen Schauspielern haben, die so gut sind und nichts verdienen und auch sonst bei weitem nicht genug Dank und Ruhm bekommen, ist eigentlich nur das Mitleid über das traurige Schicksal vieler edler Bestrebungen und vor allem der unseren. Darum ist es auch so unverhältnismäßig stark, weil es sich äußerlich an fremde Leute hält und in Wirklichkeit zu uns gehört. Trotzdem ist es aber mit den
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