Tagebücher: 1909-1923
diese Schulen auf den strenggläubigsten Grundlagen beruhn, sind gerade sie die Ausgangstätten des abtrünnigen Fortschritts, denn weil hier junge Leute von weit her zusammenkommen und gerade die Armen, die Energischen, die von zuhause fortstreben, da hier die Beaufsichtigung nicht sehr streng ist und die jungen Leute hier ganz aufeinander angewiesen sind und der wesentlichste Teil des Studiums im gemeinsamen Lernen und gegenseitigen Erklärungen schwieriger Stellen besteht, da die Frömmigkeit in den verschiedenen Heimatsorten der Studenten eine gleichartige ist, die nicht besonders zu Mitteilungen auffordert, während der niedergehaltene Fortschritt je nach den verschiedenen Ortsverhältnissen in der mannigfaltigsten Weise steigt oder fällt, so daß es hier immer viel zu erzählen gibt, da ferner von den verbotenen fortschrittlichen Schriften sich immer nur eines oder das andere in den Händen eines Einzelnen befindet, während sie in der Jeschive von allen Seiten zusammengetragen werden und hier besonders wirken können, weil jeder Besitzer nicht nur den Text, sondern sein eigenes Feuer weiterträgt, aus allen diesen Gründen und ihren nächsten Folgen sind aus diesen Schulen in der letzten Zeit alle fortschrittlichen Dichter, Politiker, Journalisten und Gelehrten hervorgegangen. Dadurch hat sich einerseits der Ruf dieser Schulen unter den Strenggläubigen sehr verschlechtert, anderseits strömen ihnen mehr als früher fortschrittlich gesinntejunge Leute zu. – Eine berühmte Jeschive ist die von Ostro, einem kleinen, 8 Eisenbahnstunden von Warschau entfernten Ort. Ganz Ostro ist eigentlich nur die Einfassung eines ganz kurzen Stückes der Landstraße. Löwy behauptet, es sei so lang wie sein Stock. Als einmal ein Graf mit seinem vierspännigen Reisewagen in Ostro Halt machte, standen die vordern2 Pferde und der hintere Teil des Wagens schon außerhalb des Ortes. – Löwy entschloß sich, im Alter von beiläufig 14 Jahren, als ihm der Zwang des Lebens zuhause unerträglich schien nach Ostro zu fahren. Der Vater hatte ihm gerade, als er gegen Abend die Close verließ, auf die Schulter geklopft und leichthin gesagt, er möchte dann später zu ihm kommen, er habe mit ihm zu reden. Weil hier offenbar wieder nichts anderes zu erwarten war, als Vorwürfe, gieng L. direkt von der Close ohne Gepäck, in einem etwas bessern Kaftan, weil es Samstag abend war, und mit seinem ganzen Geld, das er immer bei sich trug, auf den Bahnhof und fuhr mit dem 10 Uhrzug nach Ostro, wo er um 7 Uhr früh ankam. Er gieng gleich in die Jeschive, wo er kein besonderes Aufsehen machte, weil jeder in eine Jeschive eintreten kann und keine besonderen Aufnahmbedingungen bestehn. Auffallend war nur, daß er gerade zu dieser Zeit – es war Sommer – eintreten wollte, was nicht üblich war, und weil er einen guten Kaftan hatte. Aber auch damit fand man sich bald ab, weil so ganz junge Leute, die in einer uns unbekannten Stärke durch ihr Judentum an einander gebunden sind, sich leicht bekanntmachen. Beim Lernen zeichnete er sich aus, da er schon von zuhause viel Wissen mitbrachte. Die Unterhaltung mit den fremden Jungen gefiel ihm, besonders da ihn alle, als sie von seinem Geld erfuhren, mit Kaufangeboten umdrängten. Einer, der ihm “Tage” verkaufen wollte, setzte ihn besonders in Erstaunen. Mit “Tage” wurden nämlich Freitische bezeichnet. Ein verkäuflicher Gegenstand waren sie deshalb, weil es den Gemeindemitgliedern, die mit der Gewährung von Freitischen ohne Ansehen der Person ein gottgefälliges Werk tun wollten, gleichgültig war, wer an ihrem Tische saß. Wenn nun ein Student besonders geschickt war, konnte es ihm gelingen, einen Tag mit zwei Freitischen zu besetzen. Diese doppelten Mahlzeiten konnte er um so besser ertragen, als sie nicht sehr reichhaltig waren und man nach der einen noch mit großem Vergnügen die zweite herunteressen konnte und weil es auch vorkam, daß zwar ein Tag doppelt besetzt war, andere Tage aber leer standen. Trotzdem war natürlich jeder froh, wenn er Gelegenheit fand, einen solchen überzähligen Freitisch vorteilhaft zu verkaufen. Kam nun einer im Sommer wie Löwy also zu einer Zeit, wo die Freitische längst verteilt waren, konnte man sie überhaupt nur noch durch Kauf bekommen, da die am Anfang überzähligen Freitische sämtlich von Spekulanten besetzt waren. – Die Nacht in der Jeschiveh war unerträglich. Zwar standen alle Fenster offen, weil die Nacht warm war, aber der Gestank und die
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