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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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schnippenden Fingern, zu den fest gedrehten Schläfenlocken, zu dem flach und unschuldig unter die Weste gehenden dünnen Hemd, zu der Unterlippe die sich einmal beim Genießen der Wirkung eines Witzes aufstülpt (seht Ihr, alle Sprachen kenn ich, aber auf jiddisch), zu den fetten Füßchen, die in den dicken weißen Strümpfen bis hinter die Zehen durch die Schuhe sich niederhalten lassen. Da sie aber gestern neue Lieder sang, schädigte sie ihre Hauptwirkung auf mich, die darin bestand, daß sich hier ein Mensch zur Schau stellt, der ein paar Witze und Lieder herausgefunden hat, die sein Temperament und alle seine Kräfte auf das vollkommenste vorführen. Da diese Vorführung gelingt, ist alles gelungen und macht es uns Freude diesen Menschen öfters auf uns wirken zu lassen, so werden wir uns natürlich – und darin sind vielleicht alle Zuhörer mit mir einig – durch die ständige Wiederholung der immer gleichen Lieder nicht beirren lassen, wir werden es vielmehr als Hilfsmittel der Sammlung ebenso z. B. wie die Verdunkelung des Saales gutheißen und von der Frau aus gesehn jene Unerschrockenheit und Selbstbewußtheit darin erkennen, die wir gerade suchen. Als daher die neuen Lieder kamen, die an Frau Klug nichts neues zeigen konnten, da die früheren ihre Schuldigkeit so vollkommen getan hatten, und als daher diese Lieder Anspruch darauf machten, als Lieder beachtet zu werden, wozu gar kein Grund war und als sie auf diese Weise von Frau Kl. ablenkten, aber gleichzeitig zeigten, daß auch sie selbst in diesen Liedern sich nicht wohl fühlte und zum teil verfehlte zum Teil übertriebene Gesichter und Bewegungen machte, mußte man verdrießlich werden und blieb nur dadurch getröstet, daß die Erinnerung an ihre vollkommene Darstellung von früher infolge ihrer unerschütterlichen Wahrhaftigkeit zu fest war, um sich durch den gegenwärtigen Anblick stören zu lassen.
    7. I 12

    Frau T. hat leider immer Rollen, welche nur die Essenz ihres Wesens zeigen, sie spielt immer Frauen und Mädchen, die mit einem Schlage unglücklich, verhöhnt, entehrt, gekränkt werden, denen aber nicht Zeit gegönnt ist, ihr Wesen in natürlicher Folge zu entwickeln. An der hervorbrechenden natürlichen Macht, mit welcher sie jene Rollen spielt, die nur im Spiel Höhepunkte, im geschriebenen Stück dagegen, infolge des Reichtums, den sie fordern, bloße Andeutungen sind, erkennt man, was sie zu leisten fähig wäre. – Eine ihrer wichtigen Bewegungen geht als Schauer von den etwas steif gehaltenen, zuckenden Hüften aus. Ihre kleine Tochter scheint eine Hüfte völlig steif zu haben. – Wenn die Schauspieler einander umarmen, halten sie einander gegenseitig die Perücken fest. – Als ich letzthin mit Löwy in sein Zimmer hinaufgieng, wo er mir den Brief vorlesen wollte, den er an den Warschauer Schriftsteller Nombert geschrieben hatte, trafen wir auf dem Treppenabsatz das Ehepaar T. Sie trugen ihre Kostüme für Kol- Nidre, die wie Mazzes in Seidenpapier gepackt waren, in ihr Zimmer hinauf. Wir blieben ein Weilchen stehn. Ich hatte das Geländer zur Stütze der Hände und Satzbetonungen. Ihr großer Mund bewegte sich so nahe vor mir in berraschenden aber natürlichen Formen. Das Gespräch drohte durch meine Schuld ins Trostlose auszugehn, denn durch mein Streben in Eile alle Liebe und Ergebenheit auszudrücken, brachte ich es nur zu der Feststellung, daß die Geschäfte der Truppe elend giengen, daß ihr Repertoire erschöpft war daß sie also nicht mehr lange bleiben könnten und daß die Interesselosigkeit der Prager Juden ihnen gegenüber unbegreiflich sei. Montag sollte ich – so bat sie mich – zu Sejdernacht kommen, trotzdem ich es schon kannte. Dann werde ich sie jenes Lied (bore Isroel) singen hören, das ich, wie sie sich aus einer alten Bemerkung erinnert hatte, besonders liebe.
      Das nächtliche Aussehn, das ich und Max, Weltsch nicht so sehr, gestern mittag auf dem Graben hatten, weil wir so wenig bei Tag spazieren ge hn.

    Jeschive sind Talmudhochschulen, welche von vielen Gemeinden in Polen und Rußland ausgehalten werden. Die Kosten sind nicht sehr groß, weil diese Schulen meistens in einem alten unbrauchbaren Gebäude untergebracht sind, in dem sich außer den Lehr- und Schlafzimmern der Schüler die Wohnung des Rosch-Jeschive, der auch sonst Gemeindedienste versieht, und seines Gehilfen befindet. Die Schüler zahlen kein Schulgeld und bekommen die Mahlzeiten abwechselnd bei den Gemeindemitgliedern. Trotzdem

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