Tagebücher 1909-1923
Zustandes.
Was willst Du also tun?
Von Prag weggehn. Gegenüber diesem stärksten
menschlichen Schaden, der mich je getroffen hat, mit dem stärksten Reaktionsmittel, über das ich verfüge, vorgehn.
Den Posten verlassen?
Der Posten ist ja nach dem Obigen ein Te il der
Unerträglichkeit. Ich verliere nur eine Unerträglichkeit. Die Sicherheit, das auf Lebensdauer Berechnete, der reichliche Gehalt, die nicht vollständige Anspannung der Kräfte – das sind
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doch lauter Dinge, mit denen ich als Junggeselle nichts anfangen kann, die sich zu Qualen verwandeln.
Was willst Du also tun?
Ich könnte alle derartigen Fragen mit einemmal beantworten, indem ich sage: ich habe nichts zu riskieren, jeder Tag und jeder geringste Erfolg ist ein Geschenk, alles was ich tue wird gut sein.
Aber ich kann auch genauer antworten. Als
österreichischer Jurist, der ich ja im Ernst gar nicht bin, habe ich keine für mich brauchbaren Aussichten; das beste, was ich für mich in dieser Richtung erreichen könnte, besitze ich ja in meiner Stelle und kann es doch nicht brauchen. Übrigens kämen für diesen an sich ganz unmöglichen Fall, daß ich aus meiner juristischen Vorbildung etwas für mich herausschlagen wollte, nur 2 Städte in Betracht: Prag aus dem ich weg muß, und Wien, das ich hasse und in dem ich unglücklich werden müßte, denn ich würde schon mit der tiefsten Überzeugung von der Notwendigkeit dessen hinfahren. Ich muß also außerhalb Österreichs und zwar, da ich kein Sprachentalent habe und körperliche sowie kaufmännische Arbeit nur schlecht leisten könnte, wenigstens zunächst nach Deutschland und dort nach Berlin, wo die meisten Möglichkeiten sind, sich zu erhalten.
Dort kann ich auch im Journalismus meine schriftstellerischen Fähigkeiten am besten und unmittelbarsten ausnützen und einen mir halbwegs entsprechenden Gelderwerb finden. Ob ich etwa gar noch darüber hinaus fähig zu inspirierter Arbeit sein werde, darüber kann ich mich jetzt auch nicht mit der geringsten Sicherheit aussprechen. Das aber glaube ich bestimmt zu wissen, daß ich aus dieser selbstständigen und freien Lage, in der ich in Berlin sein werde, (sei sie im übrigen auch noch so elend) das einzige Glücksgefühl ziehen werde, dessen ich jetzt noch fähig bin.
Du bist aber verwöhnt
Nein, ich brauche ein Zimmer und vegetarische Pension, sonst fast nichts.
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Fährst Du nicht F.’s wegen hin
Nein, ich wähle Berlin nur aus den obigen Gründen, allerdings liebe ich es auch und vielleicht liebe ich es wegen F.
und wegen des Vorstellungskreises um F.; das kann ich nicht kontrollieren. Es ist auch wahrsche inlich, daß ich in Berlin mit F. zusammenkommen werde. Wird mir dieses Zusammensein dazu verhelfen, F. aus meinem Blut hinauszubekommen: desto besser, es ist dann ein weiterer Vorteil von Berlin.
Bist Du gesund?
Nein, Herz, Schlaf, Verdauung
Ein kleines Mietzimmer. Morgendämmerung. Unordnung.
Der Student liegt im Bett, schläft der Wand zugekehrt.
Es klopft. Es bleibt still. Es klopft stärker. Der Student setzt sich erschreckt aufrecht, schaut zur Tür herein
Dienstmädchen (schwaches Mädchen): Guten Morgen
St. Was wollen Sie? Es ist ja Nacht.
D. Entschuldigen Sie. Ein Herr fragt nach Ihnen
S. Nach mir? (stockt) Unsinn! Wo ist er?
D. Er wartet in der Küche
S. Wie sieht er aus
D. (lächelt) Nun, es ist noch ein Junge, sehr schön ist er nicht, ich glaube es ist ein Jud
S. Und das will in der Nacht zu mir? Übrigens, hören Sie brauche ich nicht Ihr Urteil über meine Gäste. Und der soll hereinkommen. Aber rasch!
Der Student stopft die kleine Pfeife, die auf dem Sessel neben seinem Bett gelegen ist und raucht.
Kleipe (steht an der Tür und schaut zum Student, der, die Augen zur Zimmerdecke gerichtet, ruhig vor sich hindampft.) (klein, gerade, große, lange, etwas schief gedrehte, spitze Nase, dunkle Gesichtsfarbe, tiefliegende Augen, lange Arme)
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St. Wie lange noch? Kommen Sie her zum Bett und sagen Sie was Sie wollen. Wer sind Sie? Was wollen Sie? Rasch! Rasch!
Kl. (geht sehr langsam zum Bett und sucht auf dem Weg durch Handbewegungen etwas zu erklären. Beim Reden hilft er sich durch Strecken des Halses und durch Hoch- und Tiefziehn der Augenbrauen) Ich bin nämlich auch aus Wulfenshausen S. So; das ist schön, das ist sehr schön. Warum sind Sie denn nicht dort geblieben?
Kl. Überlegen Sie! Es ist unser beider Vaterstadt, schön, aber doch ein elendes Nest
Es war ein Sonntag
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