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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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geheißen und war der eigentliche Gärtner und voraussichtlicher Nachfolger des alten Dvorsky, ja sogar schon Besitzer des Blumengartens sich vor 2 Monaten im Alter von 28 Jahren aus Melancholie vergiftet hat. Im Sommer war ihm verhältnismäßig wohl trotz seiner einsiedlerischen Natur, da er wenigstens mit den Kunden verkehren mußte, im Winter dagegen war er ganz verschlossen. Seine Geliebte war eine Beamtin – urednice – ein gleichfalls melancholisches Mädchen.
    Sie giengen zusammen oft auf den Friedhof.
    Der riesige Menasse bei der Jargonvorstellung. Irgendetwas Zauberhaftes das mich
    bei seinen Bewegungen im
    Zusammenklang mit der Musik ergriff. Ich habe es vergessen.
    Mein dummes Lachen, als ich heute der Mutter sagte, daß ich Pfingsten nach Berlin fahre. "Warum lachst Du?" sagte die Mutter (unter einigen anderen Bemerkungen, darunter "Drum prüfe, wer sich ewig bindet" die ich aber alle abwehrte mit Bemerkungen wie "Es ist nichts u.s.w.") "Aus Verlegenheit"
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    sagte ich und war froh einmal etwas Wahres in dieser Sache gesagt zu haben.
    Die Bailly gestern getroffen. Ihre Ruhe, Zufriedenheit Unbefangenheit und Klarheit, trotzdem sich in den letzten zwei Jahren ihr Übergang zur alten Frau vollzogen hat, diese schon damals lästige Fülle bald die Grenze steriler Fettleibigkeit erreicht haben wird, in den Gang eine Art Sich-Wälzens und Sich- Schiebens mit Vorstoßen oder besser Vortragen des Bauches gekommen ist und am Kinn – beim kurzen Anblick nur am Kinn – Barthaare sich aus dem frühern Flaume ringeln.
    3 Mai (1913)
    Die schreckliche Unsicherheit meiner innern Existenz.
    Curator
    Wie ich die Weste aufknöpfe, um dem Hr. B. meinen
    Ausschlag zu zeigen. Wie ich ihn in ein Nebenzimmer winke.
    Der Aussätzige und seine Frau. Wie sich ihr Hintere, sie liegt im Bett auf dem Bauch, immer wieder mit allen Geschwüren erhebt, trotzdem ein Gast da ist. Wie der Mann sie immer anschreit, daß sie zugedeckt liegen bleiben soll.
    Der Ehemann ist von einem Pfahl – man weiß nicht. von wo der kam – von hinten getroffen niedergeworfen und durchbohrt worden. Auf dem Boden liegend klagt er mit erhobenem Kopf und ausgebreiteten Armen. Später kann er sich auch schon für einen Augenblick schwankend erheben. Er weiß nichts anderes zu erzählen, als wie er getroffen wurde und zeigt die beiläufige Richtung, aus der seiner Meinung nach der Pfahl gekommen ist.
    Diese immer gleichen Erzählungen ermüden schon die Ehefrau, zumal der Mann immer wieder eine andere Richtung zeigt.
    4 (Mai 1913) Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers das eiligst
    und mit mechanischer
    Regelmäßigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen.
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    An einem frühen Morgen, die Gassen waren noch leer weit und breit, öffnete ein Mann, er war bloßfüßig und nur mit Nachthemd und Hose bekleidet, das Tor eines großen Miethauses in der Hauptstraße. Er hielt beide Türflügel fest und atmete tief. "Du Jammer, Du verfluchter Jammer" sagte er und sah scheinbar ruhig zuerst die Straße entlang, dann über einzelne Häuser hin.
    Verzweiflung also auch von hier aus. Nirgends Aufnahme.
    1. Verdauung 2. Neurasthenie 3. Ausschlag 4. innere Unsicherheit
    Wenn sie doch in einem Kopfe ohne Spannung sich
    vermischte
    24. Mai 13 Spaziergang mit Pick.
    Übermut weil ich den Heizer für so gut hielt. Abend las ich ihn den Eltern vor, einen besseren Kritiker als mich während des Vorlesens vor dem höchst widerwillig zuhörenden Vater, gibt es nicht. Viele flache Stellen vor offenbar unzugänglichen Tiefen.
    5 VI 13
    Die innern Vorteile welche mittelmäßige litterarische Arbeiten daraus ziehen, daß ihre Verfasser noch am Leben und hinter ihnen her sind. Der eigentliche Sinn des Veraltens.
    Löwy Geschichte von der Grenzüberschreitung.
    21. VI (1913) Die Angst, die ich nach allen Seiten hin ausstehe. Die Untersuchung beim Doktor, wie er gleich gegen mich vordringt, ich mich förmlich aushöhle und er in mir verachtet und unwiderlegt seine leeren Reden hält.
    Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.
    Ein großer Mann in einem bis zu den Füßen reichenden Mantel klopfte an einem kalten Frühlingsmorgen gegen 5 Uhr
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    mit der Faust an die Tür

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