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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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Nachmittag zitterte ich schon vor Begierde zu lesen, konnte kaum den Mund geschlossen halten.
    Es ist wirklich kein Stoß nötig, nur ein Zurückziehn der letzten auf mich verwendeten Kraft und ich komme in eine Verzweiflung die mich zerreißt. Als ich mir heute vorstellte, daß ich während des Vortrags unbedingt ruhig sein werde, fragte ich mich, was das für eine Ruhe sein wird, wo sie begründet sein wird, und ich konnte nur sagen, daß es bloß eine Ruhe um ihrer selbst willen sein wird, eine unverständliche Gnade, sonst nichts.
    12. (Dezember 1913) Und früh bin ich verhältnismäßig ganz frisch aufgestanden.
    Gestern auf dem Nachhauseweg der kleine grau verpackte Junge der neben einer Gruppe von Jungen nebenher lief, sich gegen den Schenkel schlug, mit der andern Hand einen andern Jungen faßte und rief in ziemlicher Geistesabwesenheit, was ich nicht vergessen darf: Dnes to bylo docela hezky.
    Die Frische mit der ich heute nach einer etwas geänderten Tageseinteilung um etwa 6 Uhr auf der Gasse gieng.
    Lächerliche Beobachtung, wann werde ich das ausrotten.
    Im Spiegel sah ich mich vorhin genau an und kam mir im Gesicht – allerdings nur bei der Abendbeleuchtung und der Lichtquelle hinter mir, sodaß eigentlich nur der Flaum an den Rändern der Ohren beleuchtet war – auch bei genaue rer Untersuchung besser vor, als ich nach eigener Kenntnis bin. Ein klares übersichtlich gebildetes, fast schön begrenztes Gesicht.
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    Das Schwarz der Haare, der Brauen und der Augenhöhlen dringt wie Leben aus der brigen abwartenden Masse. Der Blick ist gar nicht verwüstet, davon ist keine Spur, er ist aber auch nicht kindlich, eher unglaublicherweise energisch, aber vielleicht war er nur beobachtend, da ich mich eben beobachtete und mir Angst machen wollte.
    12 XII 13 Gestern lange nicht eingeschlafen. F. Hatte endlich den Plan und damit schlief ich unsicher ein, Weiß zu:bitten, mit einem Brief zu ihr ins Bureau zu gehn, und in diesem Brief nichts weiter zu schreiben, als daß ich eine Nachricht von ihr oder über sie haben müsse und deshalb Weiß hingeschickt habe, damit er mir von ihr schreibe. Inzwischen sitzt Weiß neben ihrem Schreibtisch, wartet bis sie den Brief ausgelesen hat, verbeugt sich, da er keinen andern Auftrag hat und auch kaum eine Antwort bekommen dürfte, und geht.
    Diskussionsabend im Beamtenverein. Ich habe ihn geleitet.
    Komische Quellen des Selbstgefühls. Mein Einleitungssatz: "Ich muß den heutigen Diskussionsabend mit dem Bedauern darüber einleiten, daß er stattfindet. " Ich war nämlich nicht rechtzeitig verständigt worden und daher nicht vorbereitet.
    14 XII (1913) Vortrag Beermann. Nichts, aber mit einer hie und da ansteckenden
    Selbstzufriedenheit vorgetragen.
    Mädchenhaftes Gesicht mit Kropf. Vor dem Aussprechen fast jedes Satzes die gleichen Muskelzusammenziehungen im Gesicht, wie beim Niesen. Ein Vers vom Weihnachtsmarkt in seinem heutigen Tagblattaufsatz.
    Herr, kaufen Sie es Ihren Kleinen
    Damit sie lachen und nicht weinen.
    Hat Shaw zitiert: "Ich bin ein vielsitzender zaghafter Civilist."
    Brief an F. im Bureau geschrieben.
    Der Schrecken, als ich vormittag auf dem Weg ins Bureau das F. ähnliche Mädchen aus dem Seminar traf, im Augenblick nicht wußte wer das war und nur merkte, daß sie zwar F. ähnlich aber
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    doch nicht F. war, überdies aber noch irgendeine darüber hinausgehende Beziehung zu F. hatte, nämlich die, daß ich im Seminar in ihrem Anblick viel an F. gedacht hatte.
    Jetzt in Dostojewski die Stelle gelesen, die so an mein
    "Unglücklichsein" erinnert.
    Als ich während des Lesens mit der linken Hand seitlich in die Hose fuhr und meinen lauwarmen Oberschenkel faßte.
    15. (Dezember 1913) Briefe an Dr. Weiß und Onkel Alfred.
    Kein Telegramm gekommen.
    "Wir Jungen von 1870/71" gelesen. Wieder von den Siegen und begeisterten Scenen mit unterdrücktem Schluchzen gelesen.
    Vater sein und ruhig mit seinem Sohn reden. Dann darf man aber kein Spielzeughämmerchen an Stelle des Herzens haben.
    "Hast Du dem Onkel schon geschrieben?" fragte mich, wie ich mit Bosheit längst erwartete, die Mutter. Sie beobachtete mich schon lange ängstlich, wagte aus verschiedenen Gründen erstens mich nicht zu fragen und zweitens mich nicht vor dem Vater zu fragen und fragte schließlich in ihrer Besorgnis, da sie sah, daß ich weggehn wollte, dennoch. Als ich hinten an ihrem Sessel vorüberkam, sah sie von den Spielkarten auf, wendete mit einer längst vergangenen und

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