Tagebücher 1909-1923
Ursache dessen, daß das Urteil der Nachwelt über den Einzelnen richtiger ist als das der Zeitgenossen liegt im Toten.
Man entfaltet sich in seiner Art erst nach dem Tode, erst wenn man allein ist. Das Totsein ist für den Einzelnen wie der Samstagabend für den Kaminfeger, sie waschen den Ruß vo m Leibe. Es wird sichtbar ob die Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr geschadet hat, im letzteren Fall war er ein großer Mann.
Die Kraft zum Verneinen, dieser natürlichsten Äußerung des immerfort sich
verändernden, erneuernden, absterbend
auflebenden menschlichen Kämpferorganismus haben wir immer, den Mut aber nicht, während doch Leben Verneinen ist, also Verneinung Bejahung.
Mit seinen absterbenden Gedanken stirbt er nicht. Das Absterben ist nur eine Erscheinung innerhalb der innern Welt (die bestehen bleibt, selbst wenn auch sie nur ein Gedanke wäre) eine Naturerscheinung wie jede andere weder fröhlich noch traurig.
-535-
"Am Sicherheben hindert ihn eine gewisse Schwere, ein Gefühl des Gesichertseins für jeden Fall, die Ahnung eines Lagers, das ihm bereitet ist und nur ihm gehört, am Stilliegen aber hindert ihn eine Unruhe die ihn vom Lager jagt, es hindert ihn das Gewissen, das endlos schlagende Herz, die Angst vor dem Tod und das Verlangen ihn zu widerlegen, alles das läßt ihn nicht liegen und er erhebt sich wieder. Dieses Auf und Ab und einige auf diesen Wegen gemachte zufällige, flüchtige, abseitige Beobachtungen sind sein Leben. "
"Deine Darstellung ist trostlos, aber nur für die Analyse, deren Grundfehler sie zeigt. Es ist zwar so, daß der Mensch sich aufhebt, zurückfällt, wieder sich hebt u. s. f. aber es ist auch gleichzeitig und mit noch viel größerer Wahrheit ganz und gar nicht so, er ist doch Eines, im Fliegen also auch das Ruhen, im Ruhen das Fliegen und beides vereinigt wieder in jedem Einzelnen, und die Vereinigung in jedem, und die Vereinigung der Vereinigung in jedem u. s. f. bis, nun, bis zum wirklichen Leben, wobei auch diese Darstellung noch ebenso falsch ist und vielleicht noch täuschender als die Deine. Aus dieser Gegend gibt es eben keinen Weg bis zum Leben, während es allerdings vom Leben einen Weg hierher gegeben haben muß. So verirrt sind wir. "
Die Strömung gegen die man schwimmt ist so rasend, daß man in einer gewissen Zerstreutheit manchmal verzweifelt ist über die öde Ruhe, inmitten welcher man plätschert, so unendlich weit nämlich ist man in einem Augenblick des Versagens zurückgetrieben worden.
29 (Februar 1920) Er hat Durst und ist von der Quelle nur durch ein Gebüsch getrennt. Er ist aber zweigeteilt, ein Teil übersieht das Ganze, sieht daß er hier steht und die Quelle daneben ist, ein zweiter Teil aber merkt nichts, hat höchstens eine Ahnung dessen, daß der erste Teil alles sieht. Da er aber nichts merkt, kann er nicht trinken.
-536-
15 X 21 Alle Tagebücher, vor einer Woche etwa, M. gegeben.
Ein wenig freier? Nein. Ob ich noch fähig bin eine Art Tagebuch zu führen? Es wird jedenfalls anders sein, vielmehr es wird sich verkriechen, es wird gar nicht sein, über Hardt z. B.
der mich doch verhältnismäßig sehr beschäftigt hat, wäre ich nur mit größter Mühe etwas zu notieren fähig. Es ist so, als hätte ich schon alles längst ber ihn geschrieben oder was das gleiche ist, als wäre ich nicht mehr am Leben. Über M. könnte ich wohl schreiben, aber auch nicht aus freiem Entschluß, auch wäre es zu sehr gegen mich gerichtet, ich brauche mir solche Dinge nicht mehr umständlich bewußt zu machen, wie früher einmal, ich bin in dieser Hinsicht nicht so vergeßlich wie früher, ich bin ein lebendig gewordenes Gedächtnis, daher auch die Schlaflosigkeit.
In Hebels Brief die Stelle über Polytheismus.
16 X 21 Sonntag Das Unglück eines fortwährenden Anfangs, das Fehlen der Täuschung darüber, daß alles nur ein Anfang und nicht einmal ein Anfang ist, die Narrheit der andern, die das nicht wissen und z. B. Fußball spielen, um endlich einmal
"vorwärts zu kommen", die eigene Narrheit in sich selbst vergraben wie in einem Sarg, die Narrheit der andern, die hier einen wirklichen Sarg zu sehen glauben, also einen Sarg, den man transportieren, aufmachen, zerstören, auswechseln kann.
Zwischen den jungen Frauen oben im Park. Kein Neid. Genug Phantasie, um ihr Glück zu teilen, genug Urteilsfähigkeit, um zu wissen, daß ich zu schwach bin für dieses Glück, genug Narrheit, um zu glauben, daß ich meine und ihre
Weitere Kostenlose Bücher