Tagebücher 1909-1923
Gruppe längst aufgelöst oder wenigstens er hat sie verlassen und bringt sich allein durchs Leben. Nicht einmal seinen alten Beruf hat er mehr, ja er hat sogar vergessen, was er damals darstellte.
Wohl gerade durch dieses Vergessen ergibt sich eine gewisse Traurigkeit, Unsicherheit, Unruhe, ein gewisses die Gegenwart trübendes Verlangen nach den vergangenen Zeiten. Und doch ist dieses Verlangen ein wichtiges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst.
Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie die zwar selbst überreich an Lebens- und Denkkraft ist, für die er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet.
Wegen dieser unbekannten Familie und dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden.
Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.
18 II 20 Vor der Auslage von Casinelli drückten sich 2 Kinder herum, ein etwa 6 Jahre alter Junge, ein 7 Jahre altes Mädchen, reich angezogen, sprachen von Gott und von Sünden. Ich blieb hinter ihnen stehn. Das Mädchen vielleicht katholisch hielt nur das Belügen Gottes für eine eigentliche Sünde. Kindlich hartnäckig fragte der Junge, vielleicht ein Protestant, was das Belügen des Menschen oder das Stehlen sei. "Auch eine sehr große Sünde" sagte das Mädchen "aber nicht die größte, nur die Sünden an Gott sind die größten, für die Sünden an Menschen haben wir die Beichte. Wenn ich beichte steht gleich wieder der Engel hinter mir; wenn ich nämlich eine Sünde begehe, kommt
-533-
der Teufel hinter mich, nur sieht man ihn nicht. " Und des halben Ernstes müde, drehte sie sich zum Spaße auf den Haken um und sagte: "Siehst Du niemand ist hinter mir." Ebenso drehte sich der Junge um und sah dort mich. "Siehst Du" sagte er ohne Rücksicht darauf, daß ich es hören mußte, aber auch ohne daran zu denken "hinter mir steht der Teufel. " "Den sehe ich auch"
sagte das Mädchen "aber den meine ich nicht"
Er will keinen Trost, aber nicht deshalb weil er ihn nicht will
– wer wollte ihn nicht – sondern weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden (wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt)
Er wehrt sich gegen die Fixierung durch den Mitmenschen.
(Der Mensch sieht selbst wenn er unfehlbar wäre im andern nur jenen Teil, für den seine Blickkraft und Blickart reicht. Er hat, wie jeder, aber in äußerster Übertreibung die Sucht, sich so einzuschränken wie ihn der Blick des Mitmenschen zu sehen die Kraft hat.) Hätte Robinson den höchsten oder richtiger den sichtbarsten Punkt der Insel niemals verlassen, aus Trotz oder Demut oder Furcht oder Unkenntnis oder Sehnsucht, so wäre er bald zugrundegegangen, da er aber ohne Rücksicht auf die Schiffe und ihre schwachen Fernrohre seine ganze Insel zu erforschen und ihrer sich zu freuen begann, erhielt er sich am Leben und wurde – in einer allerdings dem Verstand nicht notwendigen Konsequenz – schließlich doch gefunden.
19 II (1920)
"Du machst aus Deiner Not eine Tugend. "
"Erstens tut das jeder und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst. "
"Daraus eben machst Du Deine Tugend"
-534-
"Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur Deinetwegen; damit Du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an meiner Seele. "
Meine Gefängniszelle – meine Festung.
Alles ist ihm erlaubt nur das Sich-vergessen nicht, womit allerdings wieder alles verboten ist bis auf das eine, für das Ganze augenblicklich Notwendige.
Die Enge des Bewußtseins ist eine sociale Forderung Alle Tugenden sind individuell, alle Laster social; was als sociale Tugend gilt, etwa Liebe, Uneigennützigkeit, Gerechtigkeit, Opfermut, sind nur "erstaunlich" abgeschwächte sociale Laster.
Der Unterschied zwischen dem "Ja und Nein" das er seinen Zeitgenossen sagt und jenem das er eigentlich zu sagen hätte, dürfte dem von Tod und Leben entsprechen; ist auch nur ebenso ahnungsweise für ihn faßbar.
Die
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