Tagebücher 1909-1923
Beinen gesessen, Menschen draußen gesehn, angezündete
Geschäftslampen, Mauern durchfahrener Viadukte, immer wieder Rücken und Gesichter, aus der Geschäftstraße der Vorstadt hinausführend eine Landstraße mit
nichts
Menschlichem als nachhausegehenden Menschen, die
schneidenden, in das Dunkel eingebrannten elektrischen Lichter
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des Bahnhofgeländes, niedrige stark sich verjüngende Kamine eines Gaswerks, ein Plakat über das Gastspiel einer Sängerin de Treville, das sich an den Wänden hintastet bis in eine Gasse in der Nähe der Friedhöfe, von wo es dann wieder mit mir aus der Kälte der Felder in die wohnungsmäßige Wärme der Stadt zurückgekehrt ist. Fremde Städte nimmt man als Tatsache hin, die Bewohner dort leben, ohne unsere Lebensweise zu durchdringen, so wie wir ihre nicht durchdringen können, vergleichen muß man, man kann sich nicht wehren, aber man weiß gut, daß das keinen moralischen und nicht einmal psychologischen Wert hat schließlich kann man oft auch auf das Vergleichen verzichten, da die allzugroße Verschiedenheit der Lebensbedingungen uns dessen enthebt. Die Vorstädte unserer Vaterstadt aber sind uns zwar auch fremd, doch haben hier Vergleiche Wert, ein halbstündiger Spaziergang kann es uns immer wieder beweisen, hier leben Menschen teils im Innern unserer Stadt teils am ärmlichen dunklen wie einem großen Hohlweg zerfurchten Rande, trotzdem sie alle einen so großen Kreis gemeinsamer Interessen haben, wie keine
Menschengruppe sonst außerhalb der Stadt. Darum betrete ich die Vorstadt stets mit einem gemischten Gefühl von Angst, von Verlassensein, von Mitleid, von Neugier, von Hochmuth, von Reisefreude, von Männlichkeit und komme mit Behagen, Ernst und Ruhe zurück; besonders von Zizkov.
19. XI 11 So.
Traum: Im Teater. Vorstellung "das weite Land" von Schnitzler bearbeitet von Utitz. Ich sitze ganz vorn in einer Bank, glaube in der ersten zu sitzen, bis sich schließlich zeigt, daß es die zweite ist. Die Rückenlehne der Bank ist der Bühne zugekehrt, so daß man den Zuschauerraum bequem, die Bühne erst nach einer Drehung sehen kann. Der Verfasser ist irgendwo in der Nähe, ich kann mit meinem schlechten Urteil über das Stück, das ich offenbar schon kenne nicht zurückhalten, füge aber dafür hinzu, daß der dritte Akt witzig sein soll. Mit diesem
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"soll" will ich wieder sagen, daß ich, wenn von den guten Stellen gesprochen wird, das Stück nicht kenne und mich auf das Hörensagen verlassen muß; dafür wiederhole ich diese Bemerkung noch einmal nicht nur für mich, aber doch von den andern nicht beachtet. Rings um mich herum ist ein großes Gedränge, alles scheint in seinen Winterkleidern gekommen zu sein und füllt daher die Plätze übermäßig aus. Leute neben mir, hinter mir die ich nicht sehe sprechen auf mich ein, zeigen mir Neuankommende, nennen die Namen, besonders werde ich auf ein durch eine Sesselreihe sich drängendes Ehepaar aufmerksam gemacht, da die Frau ein dunkelgelbes, männliches, langnasiges Gesicht hat und überdies soweit man im Gedränge aus dem ihr Kopf ragt sehen kann, Männerkleidung trägt; neben mir steht merkwürdig frei der Schauspieler Löwy, dem wirklichen aber sehr unähnlich und hält aufgeregte Reden, in denen das Wort
"principium" sich wiederholt, ich erwarte immerfort das Wort
"tertium comparationis", es kommt nicht. In einer Loge des zweiten Ranges eigentlich nur in einem Winkel der Gallerie, von der Bühne aus rechts, die sich dort an die Logen anschließt, steht irgend ein dritter Sohn der Familie Kisch hinter seiner sitzenden Mutter und redet in das Teater, angezogen in einen schönen Kaiserrock, dessen Flügel ausgebreitet sind. Die Reden des Löwy haben eine Beziehung zu diesen Reden. Unter anderem zeigt Kisch hoch oben auf eine Stelle des Vorhangs und sagt, dort sitzt der deutsche Kisch, damit meint er meinen Schulkollegen, der Germanistik studiert hat. Als der Vorhang aufgeht das Teater sich zu verdunkeln anfängt und Kisch so wie so verschwinden würde, zieht er um dies deutlicher zu machen, mit seiner Mutter die Gallerie aufwärts und weg, wieder alle Arme Röcke und Beine sehr ausgebreitet. Die Bühne liegt etwas tiefer als der Zuschauerraum, man schaut hinunter, das Kinn auf der Rückenlehne. Die Dekoration besteht hauptsächlich in zwei niedrigen dicken Säulen in der Mitte der Bühne. Ein Gastmahl wird dargestellt, an dem sich Mädchen und junge Männer
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beteiligen. Ich sehe wenig, denn
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