Tagebücher 1909-1923
Emil, eine ganz abscheuliche. An jede Kleinigkeit kannst Du anknüpfen und mit ihrer Hilfe eine schlechte Eigenschaft an mir finden.
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Karl (reibt sich die Finger) Weil Du keine Rücksicht nimmst, weil Du überhaupt unbegreiflich bist.
Sicher ist, daß ein Haupthindernis meines Fortschritts mein körperlicher Zustand bildet. Mit einem solchen Körper läßt sich nichts erreichen. Ich werde mich an sein fortwährendes Versagen gewöhnen müssen. Von den letzten wild
durchträumten, aber kaum weilchenweise durchschlafenen Nächten bin ich heute früh so ohne Zusammenhang gewesen, fühlte nichts anderes als meine Stirn, sah einen halbwegs erträglichen Zustand erst weit über dem gegenwärtigen und hätte mich einmal gerne vor lauter Todesbereitschaft mit den Akten in der Hand auf den Cementplatten des Korridors zusammengerollt. Mein Körper ist zu lang für seine Schwäche, er hat nicht das geringste Fett zur Erzeugung einer segensreichen Wärme, zur Bewahrung inneren Feuers, kein Fett von dem sich einmal der Geist über seine Tagesnotdurft hinaus ohne Schädigung des Ganzen nähren könnte. Wie soll das schwache Herz, das mich in der letzten Zeit öfters gestochen hat, das Blut über die ganze Länge dieser Beine hin stoßen können. Bis zum Knie wäre genug Arbeit, dann aber wird es nur noch mit Greisenkraft in die kalten Unterschenkel gespült. Nun ist es aber schon wieder oben nötig, man wartet darauf, während es sich unten verzettelt. Durch die Länge des Körpers ist alles auseinandergezogen. Was kann er da leisten, da er doch vielleicht, selbst wenn er zusammengedrängt wäre, zuwenig Kraft hätte für das, was ich erreichen will.
aus einem Brief Löwys an seinen Vater: Wenn ich nach Warschau komme, werde ich in meinen europäischen Kleidern zwischen euch herumgehn wie "eine Spinne vor den Augen, wie ein Trauernder unter Brautleuten"
L. erzählt von eine m verheirateten Freunde, der in Postin lebt einer kleinen Stadt in der Nähe von Warschau und sich in seinen fortschrittlichen Interessen einsam und daher unglücklich fühlt.
"Postin, ist das eine große Stadt" "So groß" er hält mir seine
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flache Hand hin. Sie ist mit einem gerauhten gelbbraunen Handschuh bekleidet und stellt eine wüste Gegend vor.
23. XI 11 am 21. dem 100jährigen Todestag Kleists ließ die Familie Kleist einen Kranz auf sein Grab legen mit der Aufschrift: "Dem Besten ihres Geschlechts"
Von was für Zuständen ich durch meine Lebensweise abhängig werde! Heute nacht habe ich etwas besser als in der letzten Woche geschlafen, heute nachmittag sogar ziemlich gut, ich habe sogar jene Verschlafenheit die auf mittelguten Schlaf folgt, infolgedessen befürchte ich, weniger gut schreiben zu können, fühle, wie sich einzelne Fähigkeiten tiefer ins Innere schlagen und bin auf alle Überraschungen vorbereitet d. h. sehe sie schon.
24 XI 11 Schhite (der welcher die Schächterkunst lernt.) Stück von Gordyn. Darin Talmudcitate z.B. Wenn ein großer Gelehrter abend oder in der Nacht eine Sünde begeht, so darf man sie ihm am Morgen nicht mehr vorwerfen, denn in seiner Gelehrsamkeit hat er sie sicher schon selbst bereut – Stiehlt man einen Ochsen so muß man 2 zurückgeben, schlachtet man den gestohlenen Ochsen, so muß man 4 zurückgeben, schlachtet man aber ein gestohlenes Kalb, so muß man nur 3 zurückgeben, weil angenommen wird, daß man das Kalb wegtragen mußte, also eine schwere Arbeit getan hat. Diese Annahme bestimmt die Strafe auch dann, wenn man das Kalb bequem fortgeführt hat.
Ehrenhaftigkeit schlechter Gedanken. Gestern abend fühlte ich mich besonders elend. Mein Magen war wieder verdorben, ich hatte mit Mühe geschrieben, der Vorlesung Löwys im Kaffeehaus, (das zuerst still war und von uns geschont werden mußte, das sich dann aber belebte und uns nicht in Ruhe ließ) hatte ich mit Anstrengung zugehört, meine traurige nächste Zukunft erschien mir nicht wert in sie einzutreten, verlassen gieng ich durch die Ferdinandstraße. Da kamen mir an der Mündung des Bergstein wieder die Gedanken an die spätere
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Zukunft. Wie wollte ich sie mit diesem aus einer
Rumpelkammer gezogenem Körper ertragen? Auch im Talmud heißt es: Ein Mann ohne Weib ist kein Mensch. Gegenüber solchen Gedanken blieb mir an diesem Abend keine andere Hilfe als daß ich mir sagte: "Jetzt kommt ihr schlechte Gedanken, jetzt weil ich schwach bin und verdorbenen Magen habe. Gerade jetzt wollt ihr euch durchdenken lassen. Nur darauf
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