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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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Von diesem Augenblick an sah ich nichts mehr.
    Schiller irgendwo: Die Hauptsache ist (oder ähnlich) "den Affekt in Charakter umzubilden"
    11. XI 11 Samstag. Gestern den ganzen Nachmittag bei Max.
    Die Reihenfolge der Aufsätze für die "Schönheit häßlicher Bilder" festgesetzt. Ohne gutes Gefühl. Gerade dann aber liebt mich Max am meisten oder scheint es mir nur, weil ich mir meines geringen Verdienstes so deutlich dann bewußt bin. Nein er liebt mich wirklich mehr. Er will in das Buch auch mein Brescia aufnehmen. Alles Gute in mir wehrt sich dagegen. Ich sollte heute mit ihm nach Brünn. Alles Schlechte und Schwache in mir hat mich zurückgehalten. Denn daß ich morgen wirklich etwas Gutes schreiben sollte, kann ich nicht glauben.
    Die von ihren Arbeitschürzen besonders hinten fest umspannten Mädchen. Eine bei Löwy und Winterberg heute vormittag, bei der die Lappen der nur auf dem Hintern geschlossenen Schürze, sich nicht wie gewöhnlich
    aneinanderfügten, sondern über einander hinweggiengen, so daß sie eingewickelt war wie ein Wickelkind. Sinnlicher Eindruck dessen wie ich ihn auch unbewußt immer von Wickelkindern hatte, die so in ihre Windeln und Betten gepreßt und mit Bändern zugeschnürt sind, ganz wie zur Befriedigung einer Lust.
    Edison hat in einem amerikanischen Interview über seine Reise durch Böhmen erzählt, seiner Meinung beruhe die verhältnismäßig höhere Entwicklung Böhmens (in den Vorstädten sind breite Gassen, Gärtchen vor den Häusern, bei der Fahrt durchs Land sieht man Fabriken bauen) darauf, daß die Auswanderung der Tschechen nach Amerika so groß ist und daß die einzelweise von dort Zurückkehrenden neues Streben von dort mitbringen.
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    Sobald ich irgendwie erkenne, daß ich Übelstände, zu deren Beseitigung ich eigentlich bestimmt wäre (z. B. das äußerst zufriedene, von mir aus gesehen trostlose Leben meiner verheirateten Schwester) auf sich beruhen lasse, verliere ich auf einen Augenblick das Gefühl meiner Armmuskeln.
    Ich werde versuchen, allmählich alles Zweifellose an mir zusammenzustellen, später das Glaubwürdige, dann das Mögliche u. s. w. Zweifellos ist in mir die Gier nach Büchern.
    Nicht eigentlich sie zu besitzen oder zu lesen, als vielmehr sie zu sehn, mich in der Auslage eines Buchhändlers von ihrem Bestand zu überzeugen. Sind irgendwo mehrere Exemplare des gleichen Buches freut mich jedes einzelne. Es ist, als ob diese Gier vom Magen ausgienge, als wäre sie ein irregeleiteter Appetit. Bücher die ich besitze freuen mich weniger, dagegen Bücher meiner Schwestern freuen mich schon. Das Verlangen sie zu besitzen ist ein unvergleichlich kleineres, es fehlt fast.
    12. XI 11 Sonntag. Gestern Conference Richepin "La legende de Napoleon" im Rudolphinum. Ziemlich leer. Wie zur Prüfung der Manieren des Vortragenden ist auf dem Weg vom Eingangstürchen zum Vortragstisch ein großes Klavier aufgestellt. Der Vortragende kommt herein, will mit dem Blick ins Publikum auf dem kürzesten Weg zu seinem Tisch, kommt daher dem Piano zu nahe, staunt, tritt zurück und umgeht es sanft, ohne mehr ins Publikum zu schauen. In der Begeisterung des Abschlusses seiner Rede und im großen Beifall hat er an das Piano natürlich längst vergessen, da es sich während des Vortrags nicht bemerkbar gemacht hat, er will möglichst spät die Hände auf der Brust dem Publikum den Rücken kehren, macht daher einige elegante Schritte seitwärts, stößt natürlich ein wenig an das Piano und muß auf den Fußspitzen den Rücken ein wenig durchbiegen, ehe er wieder in freies Terrain kommt.
    So hat es wenigstens Richepin gemacht. – Ein großer starker Fünfziger mit Taille. Die steif umherwirbelnde Frisur Daudets z.
    B. ist ohne zerstört zu sein, ziemlich fest an den Schädel
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    gedrückt. Wie bei allen alten Südländern, die eine dicke Nase und das zu ihr gehörige breite faltige Gesicht haben, aus deren Nasenlöchern ein starker Wind wie durch Pferdeschnauzen gehn kann und denen gegenüber man genau weiß, daß dies der nicht mehr zu überholende, aber noch lang andauernde Endzustand ihres Gesichtes ist, erinnerte mich auch sein Gesicht an das Gesicht einer alten Italienerin hinter einem allerdings sehr natürlich gewachsenem Bart. – Die neu gestrichene hellgraue Farbe des hinter ihm aufsteigenden Concertpodiums beirrte anfangs. Das weiße Haar klebte sich förmlich an dieser Farbe fest und ließ keine Kontur zu. Wenn er den Kopf zurückbeugte kam die Farbe in

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