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Tagebücher der Henker von Paris

Tagebücher der Henker von Paris

Titel: Tagebücher der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Sanson
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es mich sucht.«
    Bei dieser Antwort verzog sich der Mund des Greises zu einer Grimasse, die zweifellos ein Lächeln vorstellen sollte, und er erwiderte mit liebenswürdiger Miene:
    »Cap de Dions!
Ich schwöre Ihnen, mein lieber Herr, daß Sie sich in uns täuschen.«
    »Nun kurz, was wünschen Sie? Warum haben Sie mich zum Gefangenen gemacht und hierher geführt? Warum haben Sie meinen Knecht ermordet?«
    »Das sind Kleinigkeiten von geringer Wichtigkeit; man macht keine Omelette, ohne Eier zu zerschlagen. Kommen wir direkt zu dem, mein lieber Herr, was uns beschäftigen soll. Wir bedurften Ihrer Dienste, wir hätten sie wahrscheinlich vergebens erbeten und haben es daher so eingerichtet, daß wir sie fordern können; haben wir das nicht gut gemacht?«
    Sanson von Longval machte nur eine Gebärde der Nichtachtung.
    »Es gibt hier einen Menschen, der zum Tode verurteilt ist,« fuhr der Greis mit seiner ironischen Kaltblütigkeit fort, »und wir wollen nicht in Ihre Rechte und Privilegien eingreifen. Man wird Ihnen diesen Mann überliefern, und wir hoffen, daß Sie uns nicht die Ehre verweigern werden, Zeugen Ihrer Geschicklichkeit sein zu dürfen.«
    »Ein Verurteilter?« rief Sanson von Longval, seinerseits in Lachen ausbrechend; »ein Verurteilter? Durch wen ist er verurteilt? Durch das Châtelet, die Kriminalkammer oder den Herrn Polizeileutnant? Sie, der Sie zu mir sprechen, sind wahrscheinlich der Schreiber des Gerichtshofes, und ohne Zweifel werden Sie mir auch die Sentenz in aller Form vorlegen können! Wo ist die Prozedur, wo der Befehl zur Hinrichtung, damit ich sogleich meine Leute beauftragen kann, die Stricke zu schmieren oder das Schwert zu schleifen?«
    »Mein Herr, Sie sollten überzeugt sein, daß jeder Widerstand unnütz ist. Diese Herren haben beschlossen, sich das Vergnügen einer Hinrichtung nach allen Regeln zu machen, bei der es an nichts fehlen soll, selbst nicht an Ihnen, und wenn Sie wüßten, bis wie weit dieselben ihren Eigensinn zu treiben pflegen, so würden Sie uns mit Ihren überflüssigen Protestationen verschonen. Übrigens, um Ihr Gewissen ganz vorwurfsfrei zu lassen, können sowohl ich wie meine Kameraden Ihnen versichern, daß der Mann, an dem Sie Ihre Talente ausüben sollen, ebenso schuldig ist, als jemals einer am Ende des hübschen Strickes gehangen hat, von dem Sie eben zu uns sprachen.«
    »Eine schöne Kaution, die Sie mir da stellen!« sagte Sanson von Longval barsch. »Mein Schwert ist, wie Sie wissen müssen, das Schwert des Gesetzes. Ich kann es
gegen
Sie ziehen, aber nie wird es für Sie seine Scheide verlassen. Wenn Sie Morde zu vollziehen haben, so nehmen Sie Ihre Dolche zu Hilfe; diese werden keine Veranlassung haben, sich zu weigern.«
    Ein Gemurmel des Zornes durchlief die Versammlung; der Greis machte eine Bewegung, und alles schwieg wieder still.
    Sanson von Longval begann sich über die Langmut zu wundern, mit welcher der Greis seine Beleidigungen ertrug, und die Vermutung stieg in ihm auf, daß jene einen geheimnisvollen Zweck verdecke.
    Zwei der Leute, über die er zu gebieten schien, traten aus der Gruppe auf eine enorme Tonne zu, die auf einem Untersatze lag; sie stießen gegen den Boden, der sich nun wie eine Tür drehte. Mein Ahne vernahm ein Stöhnen, das anzeigte, dieser Käfig neuerer Art sei bewohnt, und wirklich zogen die Banditen einen gefesselten Mann heraus und schleppten ihn an den Füßen vor diesen eigentümlichen Gerichtshof.
    Mein Ahne hatte Mühe, die Gesichtszüge des Gefangenen zu unterscheiden.
    Der Greis stieg nun von seinem Sitze nieder, nahm eine der Lampen samt der Kette, mit der sie befestigt war, und indem er dieselbe dem Unglücklichen vor das Gesicht hielt, sagte er zu dem Scharfrichter:
    »Kennen Sie ihn?«
    Als Sanson von Longval ihm antwortete, daß er diesen armen Menschen schon seit mehreren Jahren unter der Halle von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle gesehen habe, verzog ein seltsames Lächeln die Lippen des Banditenchefs.
    In der Tat war es der Bettler, dessen Tochter mein Ahne wenige Tage zuvor begegnet war. Aber er war sehr verändert: seine Augen waren von Tränen rot, und diese Tränen mußten so reichlich geflossen sein, daß sie über seine Wangen Furchen gezogen zu haben schienen. Seine Haltung war gebeugt, und von Zeit zu Zeit zitterten alle seine Glieder unter einem konvulsivischen Schauder, dagegen war das Geschwür auf seinem Beine vollständig verschwunden, und man bemerkte an der Stelle, wo es sich so lange gezeigt

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