Tagebücher
Mo (Sonntag 1911) Altneusynagoge gestern. Kolnidre. Gedämpftes Börsengemurmel.
Im Vorraum Büchse mit der Aufschrift: "Milde Gaben im Stillen, besänftigen den Unwillen. "
Kirchenmäßiges Innere. Drei fromme offenbar östliche Juden. In Socken. Über das Gebetbuch gebeugt, den Gebetmantel über den Kopf gezogen, möglichst klein geworden. Zwei weinen, nur vom Feiertag gerührt? Einer hat vielleicht nur wehe Augen, an die er das noch gefaltete Sacktuch flüchtig legt, um das Gesicht gleich wieder nahe an den Text zu halten. Nicht eigentlich oder hauptsächlich wird das Wort gesungen, aber hinter dem Wort her werden Arabesken gezogen aus dem haardünn weitergesponnenem Wort. Der kleine Junge, der ohne die geringste Vorstellung des Ganzen und ohne Orientierungsmöglichkeit, den Lärm in den Ohren, sich zwischen den gedrängten Leuten hinschiebt und geschoben wird. Der scheinbare Commis, der sich beim Beten rasch schüttelt, was nur als Versuch einer möglichst starken, wenn auch vielleicht unverständigen Betonung jedes Wortes zu verstehen ist, wobei die Stimme geschont wird, die überdies in dem Lärm eine klare große Betonung nicht zustande brächte. Die Familie des Bordellbesitzers. In der Pinkassynagoge war ich unvergleichlich stärker vom Judentum hergenommen.
Im B. Suha vorvorgestern. Die eine Jüdin mit schmalem Gesicht, besser das in ein schmales Kinn verläuft, aber von einer ausgedehnt welligen Frisur ins Breite geschüttelt wird. Die drei kleinen Türen, die aus dem Innern des Gebäudes in den Salon führen. Die Gäste wie in einer Wachstube auf der Bühne, Getränke auf dem Tisch, werden ja kaum angerührt. Die Flachgesichtige im eckigen Kleid, das erst tief unten in einem Saum sich zu bewegen anfängt. Einige hier und früher angezogen wie die Marionetten für Kinderteater, wie man sie auf dem Christmarkt verkauft d. h.
mit Rüschen und Gold beklebt und lose benäht, so daß man sie mit einem Zug abtrennen kann und daß sie einem dann in den Fingern zerfallen. Die Wirtin mit dem mattblonden über zweifellos ekelhaften Unterlagen straff gezogenem Haar, mit der scharf niedergehenden Nase, deren Richtung in irgendeiner geometrischen Beziehung zu den hängenden Brüsten und dem steif gehaltenen Bauch steht, klagt über Kopfschmerzen, die dadurch verursacht sind, daß heute Samstag ein so großer Rummel und nichts daran ist.
zu Kubin: Die Geschichte von Hamsun ist verdächtig. Solche Geschichten könnte man aus seinen Werken zu Tausenden als erlebt erzählen.
zu Goethe: "Erregte Ideen" sind bloß die Ideen, die der Rheinfall erregt. Man sieht das aus einem Brief an Schiller. - Die vereinzelte Augenblicksbeobachtung "Kastagnettenrythmus der Kinder in Holzschuhen" hat eine solche Wirkung gemacht, ist so allgemein angenommen, daß es undenkbar ist, daß jemand, wenn er auch diese Bemerkung niemals gelesen hätte, diese Beobachtung als eigene Originalidee fühlen könnte.
2 Oktober (1911) Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen. Und von jetzt an bleibt es die ganze Nacht bis gegen 5 so, daß ich zwar schlafe daß aber starke Träume mich 14
gleichzeitig wach halten. Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß. Gegen 5 ist die letzte Spur von Schlaf verbraucht, ich träume nur, was anstrengender ist als Wachen. Kurz ich verbringe die ganze Nacht in dem Zustand, in dem sich ein gesunder Mensch ein Weilchen lang vor dem eigentlichen Einschlafen befindet. Wenn ich erwache sind alle Träume um mich versammelt aber ich hüte mich, sie zu durchdenken. Gegen Früh seufze ich in den Polster, weil für diese Nacht alle Hoffnung vorüber ist. Ich denke an jene Nächte, an deren Ende ich aus dem tiefen Schlaf gehoben wurde und erwachte, als wäre ich in einer Nuß eingesperrt gewesen. Eine schreckliche Erscheinung war heute in der Nacht ein blindes Kind scheinbar die Tochter meiner Leitmeritzer Tante die übrigens keine Tochter hat sondern nur Söhne, von denen einer einmal den Fuß gebrochen hatte. Dagegen waren zwischen diesem Kind und der Tochter Dr. Marschners Beziehungen, die, wie ich letzthin gesehen habe, auf dem Wege ist, aus einem
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