21st Century Thrill - Mind Games
Kapitel 1
SAMSTAG
Kris trat in die Pedale. Violette Wolken wölbten sich über den Himmel. Die Rucksackriemen schnitten in seine Schultern. Ihm war kalt. Er wollte heim.
Die Klasse war am frühen Nachmittag am Hauptbahnhof angekommen. Jon hatte vorgeschlagen, die neu gewonnene Freiheit und den Beginn der Sommerferien nach zwei Wochen Landschulheim zu feiern. Sie waren ins Starbuck’s gegangen. Er, Jon und Val. Val ging gern dorthin, versank sofort in einem staubigen Sessel, klappte ihr Notebook auf und hing schon im Netz. Sie war richtig süchtig nach dem Internet, bloggte und twitterte, dass Kris sich fragte, wer das Zeug eigentlich alles lesen sollte. Kurz darauf quetschte Jon sich zu Val in den Sessel und die beiden waren total in ihrem Element. Skype, Facebook, all so was. Kris fühlte sich ausgeschlossen. Dieses dumme, klamme Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht so richtig, hatte ihn die ganzen zwei Wochen verfolgt.
Ihre Klasse nahm an einem Projekt teil: „Berliner Schüler forschen für die Zukunft“ hieß der Aufenthalt an der Ostsee offiziell. Es standen mehrere Themen zur Auswahl. Während Val und Jon sich mit Informationstechnik auseinandersetzten, wählte Kris einen Kurs in Medizin. Seine Gruppe beschäftigte sich mit den Krankheiten und denkbaren Therapien des 21. Jahrhunderts. Burn-out, Psychosen, ADHS. Am dritten Tag hatte Kris zu viel gekriegt. Aber da war es zu spät, den Kurs noch zu wechseln. Projekttage. Kein gutes Wort in Kris’ Erinnerung. Aber wahrscheinlich hatte er sich nur deshalb gegen die Informationstechnik entschieden, weil er nicht 24 Stunden am Tag mitkriegen wollte, wie sein bester Freund sich an Val heranmachte. Jon tat das ganz behutsam. Und ziemlich clever. Er kopierte einfach Vals Leidenschaft für das Cyberspace. Sie hatten noch ein Schuljahr vor sich. Dann hieß es, eine Entscheidung zu treffen. Val wollte Informatik studieren. Jon wollte Journalist werden. Brannte richtig für den Job. Kris hatte keinen Schimmer, was er tun sollte.
Es begann zu tröpfeln. Ein Windstoß erwischte ihn von der Seite. Das Bike geriet ins Schlingern. Kris fing sich in letzter Sekunde. Berlin lag längst hinter ihm. Wie immer war er in Wilhelmshagen aus der S-Bahn gestiegen, wo sein Rad auf ihn wartete. Wenn er gleich über den Alten Spreearm fuhr, würde auch das verschlafene Örtchen Hessenwinkel hinter ihm liegen. Hier draußen im Südosten Berlins gab es nur noch Wald, Forstwege, ab und zu ein Haus und den Gosener Kanal, der sich schnurgerade bis zum Seddinsee erstreckte.
Kris lenkte sein Rad über die Brücke und strampelte in vollem Tempo den Radweg entlang.
Ein Wagen überholte ihn. Ungeduldig drückte der Fahrer auf die Hupe.
„Reg dich ab!“, murmelte Kris.
Der Bussard sah den BMW definitiv zu spät. Der braun gefleckte Vogel kam aus dem Kiefernwäldchen und schoss im Tiefflug über die Straße. Den Aufprall hörte Kris nicht. Er sah nur ein Bündel aus Federn, das durch die Luft wirbelte, sah, wie der Vogel ein paarmal hilflos mit den Flügeln schlug, bis er auf den Asphalt krachte und bewegungslos liegen blieb. Der BMW rauschte davon, als wäre nichts geschehen.
Kris bremste und bückte sich. Die Augen des Bussards waren schon gebrochen. Fröstelnd hob Kris den toten Vogel hoch und legte ihn am Rand des Wäldchens ins Gras. Die Windböen schüttelten die Bäume. Kris wischte sich die Hände an den Jeans ab, schnappte sich sein Rad und trat in die Pedale.
Er fuhr das ganze Jahr über mit dem Bike zur S-Bahn. Auf der Fahrt am Wasser entlang konnte er in aller Ruhe nachdenken. Über Val. Über Jon und Val. Und über seine Zukunft.
Aki ermutigte ihn, Medizin zu studieren. Das Budget treiben wir bestimmt auf, sagte sie immer. Und ich will doch stolz auf meinen kleinen Bruder sein!
Kleiner Bruder, naja.
Aki war acht Jahre älter als er. Seit dem Tod ihrer Eltern lebten sie zusammen auf dem Hausboot. Aki schuftete freiberuflich für eine Werbeagentur, um Geld zu verdienen. Aber am liebsten wollte sie Schauspielerin werden. Vor ein paar Tagen war sie zum Vorsprechen eingeladen gewesen. Kris war neugierig, was daraus geworden war.
Nach einer Viertelstunde bog er vom Radweg ab und bretterte geduckt über den Pfad, den er selbst mit seinen Touren im Unterholz gespurt hatte. Die Windböen kamen nun in kurzen Abständen. Laub fegte ihm um die Ohren. Knapp neben ihm krachte ein Ast ins Dickicht. Kris machte einen Schlenker. Endlich kam die Susanna in Sicht. Der Regen brach los.
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