Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher

Tagebücher

Titel: Tagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
uns an einen Tisch, ich Frau Tsch. gegenüber. Ich hätte mich so gerne ausgezeichnet, an und für sich war es nicht schwer, ich hätte nur einige Zug verbindungen kennen, 72
    die Bahnhöfe unterscheiden, die Entscheidung zwischen Nürnberg oder Brünn herbeiführen, vor allem aber den Pipes niederschreien müssen, der sich wie sein Bar-Kochba aufführte und dessen Geschrei Löwy sehr vernünftig wenn auch ohne Absicht ein sehr rasches, nicht zu unterbrechendes, für mich wenigstens damals ziemlich unverständliches, mittelstarkes Schwätzen entgegenstellte.
    Statt mich nun auszuzeichnen, saß ich zusammengesunken in meinem Sessel sah von Pipes zu Löwy hinüber und nur hie und da auf diesem Weg traf ich die Augen der Fr. Tsch.; wenn sie aber mit einem Blick mir antwortete (sie mußte mir z. B. nur zulächeln wegen der Aufgeregtheit von Pipes) sah ich weg. Sinnlos war das nicht. Zwischen uns konnte es kein Lächeln über des Pipes Aufgeregtheit geben. Dazu war ich ihrem Gesicht gegenüber zu ernst und von diesem Ernst ganz müde. Wenn ich über irgend etwas lachen wollte, konnte ich über ihre Schulter weg die dicke Frau anschauen, die in Bar-Kochba die Statthalterin gespielt hatte. Aber ich konnte sie eigentlich auch nicht ernst ansehn. Denn das hätte geheißen, daß ich sie liebe. Sogar der junge Pipes hinter mir in seiner ganzen Unschuld hätte das erkennen müssen. Und das wäre wirklich unerhört gewesen. Ich ein junger Mensch den man allgemein für 18 Jahre alt hält, erklärt vor den Abendgästen des Cafe Savoy, im Kreis der herumstehenden Kellner, vor der Tischrunde der Schauspieler einer 30
    jährigen Frau, die kaum jemand auch nur für hübsch hält, die 2 Kinder von 10 u. 8 Jahren hat, deren Mann neben ihr sitzt, die ein Muster von Ehrbarkeit und Sparsamkeit ist - erklärt dieser Frau seine Liebe, der er ganz verfallen ist, und - jetzt kommt das eigentlich Merkwürdigere, das allerdings niemand mehr bemerkt hätte - verzichtet sogleich auf die Frau, so wie er selbst dann auf sie verzichten würde, wenn sie jung und ledig wäre. Soll ich dankbar sein oder soll ich fluchen, daß ich trotz allem

    Unglück noch Liebe fühlen kann, eine unirdische allerdings zu irdischen Gegenständen. Schön war Fr. Tschissik gestern. Die eigentlich normale Schönheit der kleinen Hände, der leichten Finger, der gewalzten Unterarme, die in sich so vollkommen sind, daß selbst der doch ungewohnte Anblick dieser Nacktheit nicht an den übrigen Körper denken läßt. Das in 2 Wellen geteilte vom Gaslicht hell beleuchtete Haar. Die ein wenig unreine Haut um den rechten Mundwinkel. Wie zu kindlicher Klage öffnet sich ihr Mund, oben und unten in zart geformte Buchtungen verlaufend, man denkt daß diese schöne Wortbildung, die das Licht der Vokale in den Worten verbreitet und mit der Zungenspitze die reine Kontur der Worte bewahrt, nur einmal gelingen kann und staunt das immerwährende an. Niedrige weiße Stirn. Das Puder, dessen Verwendung ich bisher gesehen habe, hasse ich, wenn aber diese weiße Farbe, dieser niedrig ber der Haut schwebende Schleier von etwas getrübter Milchfarbe vom Puder herrührt, dann sollen sich alle pudern. Sie hat gern zwei Finger am rechten Mundwinkel, vielleicht hat sie auch die Fingerspitzen in den Mund gesteckt, ja vielleicht hat sie sogar einen Zahnstocher in den Mund geführt; ich habe diese Finger nicht genau angesehn, es sah aber fast so aus, als hätte sie einen Zahnstocher in einen hohlen Zahn geführt und ließe ihn dort 1/4 stundenlang ruhen.

    8 XI 11 den ganzen Nachmittag beim Doktor wegen der Fabrik.

    Das Mädchen, das nur deshalb, weil es in ihren Geliebten eingehängt gieng, ruhig umhersah.

    Die Contoristin bei Karl erinnerte mich an die Darstellerin der Manette Salomon im Odeon in Paris vor 1 1/2 Jahren. Zumindest wenn sie saß. Ein weicher mehr breiter als hoher von wolligem Stoff gedrückter Busen. Ein bis zum Mund breites, dann aber schnell sich verschmälerndes Gesicht. In einer glatten Frisur vernachlässigte natürliche Locken. Eifer und Ruhe in einem starken Körper.
    Die Erinnerung verstärkte sich, wie ich jetzt merke auch daran, daß sie fest arbeitete [an ihrer Schreibmaschine flogen die Stäbchen (Oliversystem) wie die Stricknadeln in alter Zeit] auch hin und her gieng, aber kaum paar Worte in einer halben Stunde sprach, als halte sie Manette Salomon in sich.

    73
    Als ich beim Doktor wartete sah ich das eine Schreibfräulein an und dachte darüber nach, wie schwer ihr

Weitere Kostenlose Bücher