Talk Talk
Menschen mit Tennisschlägern, Rucksäcken und Angelruten auf einmal aus dem Nichts auftauchten und über den Bahnsteig schwärmten, sondern an den Gesichtsausdruck ihrer Mutter. Anfangs konnte Dana sie in dem plötzlichen Gewimmel nicht entdecken und glaubte schon, es sei der falsche Zug. Die ersten Regentropfen hatten sie überrascht, als sie auf ihre Schultern fielen und mit kalten Fingern unter den aufgebundenen Haaren über ihren Nacken fuhren, und sie trat wie alle anderen unter das Blechdach, das den Bahnsteig überspannte. Dann spürte sie, wie die Luft erbebte, und sah den Regen zu beiden Seiten des Dachs metallisch schimmernd herabströmen. Und weil sie den sechsten Sinn der Gehörlosen besaß, spürte sie noch etwas anderes, ein unvermitteltes Erschauern, und wollte sich gerade umdrehen, um der eingebildeten oder realen Bedrohung zu begegnen, als sie ihre Mutter entdeckte. Da war sie, drängte sich zwischen zwei Männern mit Koffern hindurch und kam auf sie zu. Sie trug eine zu teure Hose und hochhackige Schuhe, dazu eine türkisfarbene Bluse, und um die Taille hatte sie ein Tuch geschlungen. Und sie hatte diesen Ausdruck auf dem Gesicht.
Ihre Mutter war nicht gekommen, um sie zu trösten, nicht mit diesem Gesicht, oder jedenfalls nicht, bevor sie nicht ihre Mißbilligung, ihre Enttäuschung und Sorge zum Ausdruck gebracht hatte, denn ihre Tochter, ihre hochgebildete gehörlose Tochter, die sie zu Selbständigkeit und Verantwortlichkeit erzogen hatte, war wieder mal in Schwierigkeiten: Ihre Kleider waren schmutzig, ihre Knie aufgeschürft wie die einer Göre, und ihr Verlobter – sofern er noch ihr Verlobter war – lag im Krankenhaus, krankenhausreif geschlagen wegen ihr. Weil sie immer so unvernünftig war. Das sagte ihr Gesichtsausdruck, das war es, was Dana in dem Augenblick sah, in dem ihre Mutter sich zwischen den beiden an den Koffern zerrenden jungen Männern hindurchdrängte und der Regen wie flüssiges Metall herabströmte und die Erde ihren Geruch wie vor unvordenklichen Zeiten verströmte. Aber dann schlug etwas um – ihre Mutter riß den Mund auf und starrte sie an –, und Dana wurde von hinten angerempelt, eine Schulter stieß sie mit Wucht an, als wäre jemand gegen sie gestolpert. Es gelang ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. Sie fuhr herum, und da war er.
Der Regen strömte, ihre Mutter stand am Rand ihres Blickfelds, alles auf dem Bahnsteig schien erstarrt, und sie sah ihm ins Gesicht. Er war so nah, daß sie den stechenden Ammoniakgeruch seines Atems und den Schweiß riechen konnte, der sich gegen den schwachen Duft eines Aftershaves durchsetzte. Er war hier, er stand direkt vor ihr – es gab kein Entkommen. Ein Zittern durchlief sie. Sie wollte schlucken, konnte es aber nicht. Sie sah den Kratzer auf seiner Wange, der wie eine Peitschenstrieme wirkte, den Bartschatten, das gereckte Kinn, die beiden hervortretenden Muskelstränge, die die Kiefer zusammenpreßten. Er sagte kein Wort. Er rührte sich nicht. Er blies sie nur mit seinem Ammoniakatem an und durchbohrte sie mit seinem Blick.
Er wußte nicht, was er tat, wirklich, er wußte es nicht. Es war, als hätte jemand den Stecker herausgezogen, so daß der Laptop seines Gehirns nur noch auf Batteriestrom lief. Der Akku wurde immer leerer, und es wurde immer schwieriger, die Verbindungen herzustellen. Er war nicht im Knast gewesen, hatte nicht die letzten drei Jahre unter falschen Namen gelebt, war nicht von Sandman angelernt worden, hatte nichts kapiert und war kein bißchen gerissen. Sie bewegte sich, und er bewegte sich – das war alles, was er wußte. Und als der gelbe Volvo vom Krankenhausparkplatz über die Route 202 in die Stadtmitte fuhr und dort nach links in die Division Street abbog – das war der Weg zum Haus seiner Mutter –, folgte er ihm.
Sie waren noch zwei Blocks vom Haus entfernt, als der Volvo, ohne den Blinker zu setzen, rechts an den Bordstein fuhr und anhielt. Er sah den schwarzen Jetta, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen anderen Wagen geparkt war, und ließ den Geländewagen gemächlich bis zur nächsten Ecke rollen, wo er abbog, um einmal um den Block zu fahren. »Kein Grund zur Eile«, sagte er und merkte, daß er mit sich selbst redete – Herrgott, wie armselig! Doch er wiederholte es, als käme seine Stimme aus dem Radio, als würde alles, was er dachte, in die Welt hinausgesendet, als würden die Menschen sich um die Apparate drängen und in den Türen stehen, um ihn zu hören.
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