Talk Talk
Augenblicks. Er hatte sie, noch immer den Revolver in der Hand, aus dem Wagen gezerrt, ihr Gesicht an das heiße Blech und Glas gepreßt, ihre Arme auf den Rücken gedreht, um ihr die Handschellen anzulegen, sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie gelehnt und mit dem Amboß seines Knies ihre Beine auseinandergedrückt. Dann hatte er sie abgetastet, erst die Knöchel, dann die Beine hinauf bis zu den Hüften, dann den Bauch, die Achselhöhlen, prüfend, forschend. Sie hatte seine scharfe männliche Ausdünstung gerochen, die Verachtung und Wut, und bei den Frikativ- und Plosivlauten hatte sie seinen heißen Atem am Ohr gespürt. Er war energisch, geradezu brutal gewesen und hatte ihr nichts erspart. Vielleicht hatte er ihr Fragen gestellt oder Anweisungen gegeben, vielleicht hatte er seinen Ton gemäßigt, doch sie hatte ihn weder hören noch sein Gesicht sehen können, und ihre Hände waren zusammengebunden wie gefangene Fische.
Jetzt, im Streifenwagen, auf dem zum Käfig umgebauten Rücksitz – genau wie die Käfige, in die man streunende Hunde sperrte –, fühlte sie sich, wie sie sich fühlen sollte: klein, hilflos, hoffnungslos, ausgeliefert. Ihr Herz klopfte wie rasend. Sie war den Tränen nahe. Leute starrten sie an und fuhren langsamer, um sie zu mustern, und sie konnte nichts tun, außer sich entsetzt und schamerfüllt abzuwenden und zu beten, daß nicht zufällig einer ihrer Schüler vorbeikam – oder sonst jemand, den sie kannte, ein Nachbar oder ihr Vermieter. Sie beugte sich vor und senkte den Kopf, bis die Haare ihr Gesicht wie ein Vorhang verdeckten. Sie hatte sich immer gefragt, warum Angeklagte auf den Stufen des Gerichtsgebäudes ihre Gesichter verbargen, warum sie sich so sehr mühten, ihre Identität zu verheimlichen, wenn doch ohnehin jeder wußte, wer sie waren. Jetzt verstand sie es, jetzt wußte sie, was für ein Gefühl das war.
Die Röte stieg ihr ins Gesicht – sie war festgenommen worden, noch dazu in aller Öffentlichkeit –, und für einen Augenblick war sie wie gelähmt. Sie konnte nur an die Schande denken, und die schmerzte wie eine Verletzung, wie ein Insektenstich, wie die Stiche Tausender von Insekten, die sie umschwirrten – sie spürte noch immer die Wärme seiner groben Hände an den Knöcheln und Oberschenkeln. Es war, als hätte er sie versengt oder mit Säure verbrannt. Sie musterte die Sitzlehne, die Fußmatten, und ihr rechter Fuß wippte im Rhythmus des Flatterns ihrer Nerven. Und dann, als wäre in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt worden, spürte sie Wut in sich aufsteigen. Warum sollte sie sich schämen? Was hatte sie denn getan?
Es war der Polizist. Er war es. Er war verantwortlich. Sie hob den Blick, und da saß er, der Idiot, das Schwein: zwei eckige Schultern in einer engen, schwarzblauen Uniformjacke, ein Genick, so flach und steif wie ein Paddel, und er hielt sich das Mikrofon vor den Mund und sagte etwas hinein, während er den schaukelnden Wagen vom Seitenstreifen auf die Straße lenkte und sie wie ein Mehlsack nach vorn in den Sicherheitsgurt fiel. Plötzlich war sie fuchsteufelswild, kurz vor dem Explodieren. Was hatte er eigentlich? Wofür hielt er sie – für eine Drogendealerin oder so? Für eine Diebin? Eine Terroristin? Sie hatte ein Stoppschild überfahren, das war alles – ein Stoppschild. Herrgott!
Bevor sie sich besinnen konnte, war es schon heraus: »Sind Sie verrückt?« Und es war ihr egal, ob ihre Stimme zu laut war, tonlos oder so häßlich, daß die Leute das Gesicht verzogen. Hier und jetzt war es ihr egal, wie ihre Stimme klang. »Ob Sie verrückt sind, hab ich gefragt.«
Doch er hörte nicht, er verstand nicht. »Bitte«, sagte sie, »hören Sie«, und sie beugte sich so weit vor, wie der Gurt es zuließ, und bemühte sich, die Worte möglichst sorgfältig zu artikulieren, obwohl sie nach Atem ringen mußte, obwohl die Handschellen zu eng waren und ihr Herz klopfte, als wollte es flatternd aus dem Gehäuse ihres Mundes entkommen, »das muß ein Irrtum sein. Wissen Sie denn, wer ich bin?«
Mit einem wilden, harten Gleiten flog die Welt vorüber. Der Wagen schaukelte unter ihr. Sie suchte sein Gesicht im Rückspiegel, wollte sehen, ob seine Lippen sich bewegten, ob sie irgendeinen kleinen Hinweis darauf erkennen konnte, was hier eigentlich los war. Bestimmt hatte er ihr ihre Rechte vorgelesen, als er ihr die Handschellen angelegt hatte: Sie haben das Recht zu schweigen und so weiter, die üblichen Sätze, die sie hundertmal im
Weitere Kostenlose Bücher