Tangenten
Gefäßsystem und seiner Haut.
»Wie lange ist der Unfall her?« fragte ich und versuchte, das Beben aus meiner Stimme fernzuhalten.
»Das war kein Unfall«, sagte er. »Es war Absicht.«
»Du meine Güte, sie haben dich geschlagen, damit du den Mund hältst?«
»Du verstehst mich nicht, Edward. Schau dir die Bilder noch mal an. Ich bin nicht verletzt.«
»Sieh mal, diese Verdickung hier«, ich zeigte auf seine Knöchel, »und deine Rippen – dieses verrückte Zickzackmuster von Verwachsungen. Offenbar mehrmals gebrochen. Und…«
»Schau dir mein Rückgrat an«, sagte er. Ich ließ das Bild auf dem Videoschirm rotieren.
Buckminster Fuller, dachte ich. Es war phantastisch. Ein Gitter aus dreieckigen Fortsätzen, alle auf eine Weise miteinander verwachsen, die ich auch nicht annähernd verfolgen und noch viel weniger verstehen konnte. Ich griff um ihn herum und versuchte, sein Rückgrat mit den Fingern zu ertasten. Er hob die Arme und blickte an die Decke.
»Ich kann’s nicht finden«, sagte ich. »Da hinten ist alles ganz glatt.« Ich ließ ihn los und betrachtete seine Brust, dann tippte ich seine Rippen an. Sie waren in etwas Rauhes und Biegsames gehüllt. Je fester ich drückte, desto härter wurde es. Dann fiel mir noch eine Veränderung auf.
»He«, sagte ich. »Du hast ja gar keine Brustwarzen.« Da waren winzige Pigmentflecken, aber keine Spur von ausgeprägten Warzen.
»Siehst du?« Vergil schlüpfte in den weißen Kittel. »Ich werde völlig umgebaut.«
Wenn ich mir diese Stunden ins Gedächtnis rufe, dann bilde ich mir ein, gesagt zu haben: »Also erzähl mir davon.« Vielleicht ist es mein Glück, daß ich nicht mehr weiß, was ich wirklich gesagt habe.
Er erklärte es mir in seiner typischen weitschweifigen Art. Das Zuhören war wie der Versuch, durch einen Wald von erläuternden Zusätzen und Ausschmückungen an den Kern eines Zeitungsartikels heranzukommen.
Ich will es vereinfacht und kurzgefaßt darstellen.
Genetron hatte ihm die Aufgabe übertragen, Prototypen von Biochips herzustellen, winzigen Schaltkreisen aus Proteinmolekülen. Manche wurden an Siliziumchips von wenig mehr als einem Mikrometer Durchmesser gehängt und dann durch die Arterien von Ratten zu Stellen geschickt, die mit einem chemischen Schlüssel definiert waren. Dort sollten sie sich mit dem Gewebe der Ratten verbinden und versuchen, im Labor ausgelöste Krankheitsverläufe zu überwachen und sogar unter Kontrolle zu bringen.
»Das war schon was«, sagte er. »Wir holten den komplexesten Mikrochip zurück, indem wir die Ratte opferten, und sahen ihn uns anschließend an. Wir schlossen den Siliziumteil an ein Bildgebersystem an. Der Computer zeigte uns Balkendiagramme, dann ein Schaubild der chemischen Charakteristika von etwa elf Zentimetern eines Blutgefäßes… dann setzte er alles zu einem Bild zusammen. Wir sausten durch elf Zentimeter Rattenarterie. Du hast noch nie so viele Wissenschaftler herumhüpfen, einander in den Armen liegen und eimerweise Wanzensaft trinken sehen.« Wanzensaft war Laboräthanol, gemischt mit Dr. Pepper.
Schließlich verzichtete man ganz auf die Siliziumelemente. An ihre Stelle traten Nukleoproteine. Es schien ihm zu widerstreben, das in allen Einzelheiten zu schildern, aber soweit ich es verstand, fanden sie Wege, große Moleküle – so groß wie die DNA und noch viel komplexer – in elektrochemische Computer zu verwandeln, wobei sie ribosomähnliche Strukturen als ›Verschlüssler‹ und ›Leser‹ und die RNA als ›Band‹ benutzten. Vergil konnte in seinen Nukleoproteinen den Reproduktionsprozeß der Trennung und Neuzusammensetzung nachahmen und dabei durch den Austausch von Nukleotiden an Schlüsselstellen Programmänderungen vornehmen. »Genetron wollte, daß ich auf die Konstruktion von Supergenen umstieg, weil das überall sonst die kommende Sache war. Die Erschaffung aller möglichen Kreaturen, manche aus unserer Phantasie. Aber ich hatte andere Vorstellungen.« Er spielte mit dem Finger an seinem Ohr herum und gab Theremin (* Theremin: Erstes rein elektronisches Instrument (um 1920), bei dem die Differenz zweier nicht wahrnehmbarer Sinustöne als Ton hörbar gemacht wurde. – Anm. d. Übers.) -Laute von sich. »Die richtige Zeit für wahnsinnige Wissenschaftler, stimmt’s?« Er lachte und wurde dann wieder ernst. »Ich injizierte meine besten Nukleoproteine in Bakterien, um die Duplizierung und das Entstehen neuer Verbindungen zu vereinfachen. Dann fing ich an, sie
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