Tango Vitale
reicht bis in die Hauptstadt Tokio mit Millionen Einwohnern. Welche Folgen das Unglück für die betroffenen Menschen hat, ist bis heute nicht absehbar.
Dass das große Schicksal das kleine verschluckt, erfahren wir nicht nur bei Katastrophen, die von der Natur verursacht werden. Noch häufiger erleben wir es bei solchen, die allein von Menschen gemacht sind. In Kriegsgebieten, während Pogromen, Genoziden und Terroranschlägen gibt es für diejenigen, die sich im Zentrum des Schreckens befinden, meist kein Entrinnen.
|14| Bei den Hexenverfolgungen vom 13. bis zum 17. Jahrhundert wurden mit dem Vorsatz, das Böse auszurotten, Tausende Unschuldige gequält und verbrannt. Sie hatten keine Chance, ihrem furchtbaren Schicksal zu entkommen. Ein finsterer Aberglaube, der uns heute nicht mehr betrifft?
In einem Seniorenheim lernte ich Hella Wertheim, eine liebenswürdige alte Dame, kennen. Als junges Mädchen wurde sie mit ihren Eltern in die Konzentrationslager von Theresienstadt, Auschwitz und Lensing verschleppt. Ihr Martyrium hat sie in ihrer Biografie mit dem Titel
Immer alles geduldig getragen
dokumentiert. Darin beschreibt sie ihre Ankunft in Auschwitz: »Der Zug hielt. Männer in Streifenjacken und runden Häftlingskappen sprangen sofort von der linken Seite in den geraden geöffneten Zug, rissen unsere Gepäckstücke an sich und warfen sie hinaus. In meiner Unwissenheit fragte ich einen: ›Wie ist es hier? ‹ Da antwortete der Mann nur: ›Rechte Seite Leben – linke Seite Tod. ‹ « Hella Wertheim sah ihre Mutter nie wieder. Sie wurde auf die linke Seite geschickt, man brachte sie in die Gaskammer. 1
Einflüsse des von Menschen verursachten allgemeinen Schicksals auf das individuelle reichen bis in die Gegenwart. Wie wäre wohl Ihr Schicksal verlaufen, wenn Sie am 11. September 2001 gerade in einer oberen Etage des World Trade Centers in New York Ihren Job gemacht hätten? Wenn Sie in Madrid am 11. März 2004 in den Nahverkehrszug gestiegen wären? Oder wenn Sie am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utöja Urlaub gemacht hätten? Welche Möglichkeiten hätten Sie, wenn Sie heute in einer Textilfabrik in Bangladesch schuften müssten? Wie sähe Ihr Leben aus, wenn Sie in einem Krisengebiet zuhause wären?
|15| Facette 2: Das Schicksal ist grausam zufällig
Das Schicksal sucht sich seine Opfer offenbar völlig beliebig aus. Die Mutter, die an einem tödlichen Krebs erkrankt und kleine Kinder zurücklässt. Das Mädchen, das zufällig an der Bahnsteigkante steht und von einem aggressiven Betrunkenen vor die einfahrende S-Bahn gestoßen wird. Der Passant, der von einem flüchtenden Bankräuber als Geisel genommen wird. Der erfolgreiche Manager, der seit einer plötzlichen Gehirnblutung geistig und körperlich behindert ist. Warum gerade diese Menschen? Wir finden keine Erklärung. So wenig wie bei diesem Unglück:
Mechthild, Grundschullehrerin aus Minden, und ihr Ehemann Helmut sind auf dem Heimweg zu ihrem Hotel »King George«. In der belebten Touristenmeile von San Franciscos Theaterbezirk dürfen sie sich durchaus sicher fühlen. Schließlich handelt es sich nicht um die New Yorker Bronx oder Washingtons düsteren Nordwesten, wo Drogendealer ihr Territorium mit der Waffe verteidigen. Während die beiden zum Hotel unterwegs sind, verlassen fünf Teenager eine Party. Zwischen ihnen kommt es zum Streit, einer ballert mit seiner Waffe herum. Von den Jugendlichen wird keiner verletzt, doch eine verirrte Kugel trifft Mechthild in die Brust. Sie stirbt im Krankenhaus. Ihr Mann steht unter Schock und kehrt so bald wie möglich nach Deutschland zurück. Ein Journalist kommentiert das Unglück: »Das Furchtbarste mag für ihn und die beiden heranwachsenden Söhne sein, dass aus dem grausam zufälligen Tod kaum eine Lehre zu ziehen ist. Jedenfalls keine, die über die Banalität hinausgeht, dass in jeder Stadt der Welt am falschen Ort zum falschen Zeitpunkt unschuldige Menschen sterben.« 2
|16| Facette 3: Das Schicksal rettet in Gefahr
Das Schicksal hat nicht nur dunkle Seiten, sondern auch magische, helle. Vielleicht haben Sie es selbst schon erlebt, dass Sie auf wunderbare Weise beschützt oder gerettet wurden. Weil im richtigen Moment jemand zur Stelle war, der Ihnen half. Weil Sie unerwartet aufgehalten wurden und deshalb nicht in Gefahr gerieten. Weil Sie zufällig den entscheidenden Tipp für einen Spezialisten oder ein Medikament erhielten. Manchmal greift das Schicksal sogar auf
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