Tango Vitale
unterm Wipfel. Urd heißt die eine, die andere Werdandi; Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte. Sie legten Lose, das Leben bestimmten sie den Geschlechtern der Menschen, das Schicksal verkündend.« 4
Indem die Menschen der Antike das Schicksal als Göttinnen personifizierten, erhielten sie zumindest indirekt die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Durch Verehrung und Opfer durften sie darauf hoffen, Wohlwollen zu erlangen.
Im frommen Mittelalter ist das Schicksal gleichbedeutend mit dem göttlichen Willen, in den man sich im wahrsten Sinne des Wortes schicken muss. Angesichts von Willkür und Ungerechtigkeit tröstet der Gedanke, dass Gottes Ratschlüsse unerforschlich sind und für gute Menschen im Jenseits ein Ausgleich wartet. Eine Hoffnung, die auch bitter nötig ist, denn im Spätmittelalter erleben sich die Menschen besonders abhängig von schicksalhaften äußeren Gegebenheiten. Kriege lassen das Volk ausbluten, die Pest wütet in Europa und tötet ein Drittel der abendländischen Bevölkerung. In der ständischen Ordnung gibt es keine Chance für eine Veränderung, jeder Schuster muss bei seinen Leisten bleiben.
In der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit begegnet man dann dem Schicksal wesentlich selbstbewusster. Der Übergang lässt sich mit dem Satz charakterisieren: »Vom Fatum zum Factum« – frei übersetzt: Vom Schicksal zum Machbaren. Descartes vertritt die Ansicht, dass die naturwissenschaftliche Erfassung der Welt die Menschen zu »maitres et possesseurs de la nature«, zu ihren Meistern und Besitzern, macht.
Das 18. Jahrhundert markiert den Beginn der Moderne in Europa. In philosophischer Hinsicht wird es von der Aufklärung geprägt. Man entdeckt die Willensfreiheit, das Individuum ist in der Lage, sein Leben |22| selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. In der zweiten Hälfte beginnt die Industrialisierung, verbunden mit wissenschaftlichem Fortschritt und verbesserten Lebensbedingungen. Viele bedrohliche Ereignisse und erschreckende Phänomene werden erklärbar und verlieren damit ihre Bedeutung als Einfluss unheimlicher Kräfte oder Strafe Gottes. Die Menschen gewinnen immer mehr den Eindruck, sie könnten ihre Umwelt beliebig beherrschen und sich dienstbar machen.
Im 19. und 20. Jahrhundert nimmt der technische Fortschritt dann ungeheuer Fahrt auf. Heute, im 21. Jahrhundert, greifen wir in das Erbgut ein, rotten Infektionskrankheiten aus, zeugen Kinder in vitro und züchten dank der Gentechnik schädlingsresistente Pflanzen, um Hungersnöte zu bekämpfen. Ein weiter Weg von den spinnenden Schicksalsgöttinnen bis zu unserer gegenwärtigen selbstsicheren Einstellung zum Schicksal. Oder doch nicht? Sicher, wir können heute vieles wissenschaftlich erklären und verhindern, was in früheren Zeiten als unabwendbares Schicksal angesehen wurde. Inzwischen erkennen wir auch, dass ein großer Teil des Schicksals von Menschen selbst verursacht wird, wie etwa die Auswirkung des Klimawandels oder das Elend in bestimmten Regionen der Erde. Davon abgesehen sind wir aber in der Kernfrage kaum weiter: Noch immer wissen wir nicht endgültig, welche Macht hinter unserem Schicksal steckt.
Was glauben Sie?
Möglicherweise erheben Sie jetzt Einspruch, weil Sie hundertprozentig davon überzeugt sind, die richtige Antwort zu kennen. Dass das Schicksal von Gott kommt, so wie es im Buch Hiob steht: »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« Oder dass der Mensch sein Schicksal gemäß der Lehre des Karma über mehrere Leben hinweg selbst verursacht und erntet, was er sät. Oder dass er durch seine Gedanken |23| und Gefühle das Universum beeinflusst, wobei Sie sich auf einige Erkenntnisse der Quantenphysik berufen. Vielleicht sehen Sie es auch existenzialistisch und meinen, dass es sich um ein bloßes mentales Konstrukt handelt, weil das Dasein ohnehin sinnlos ist. Oder Sie nehmen die Macht des Schicksal gleichmütig als gegeben an, ganz im Sinne der rheinischen Lebensweisheit: »Et kütt, wie et kütt.« Eventuell setzen Sie auf Astrologie und machen die Sterne verantwortlich.
Was Sie für wahr halten, mag Ihnen helfen, Ihr Leben besser zu bewältigen, inneren Frieden zu finden, sich sicherer zu fühlen. Vielleicht gibt es Ihnen das gute Gefühl, die Kontrolle zu haben. Dann hat es gewiss seinen Sinn und seine Berechtigung. Sehr verständlich ist auch, wenn Sie das, womit Sie persönlich gute Erfahrungen gemacht haben, gerne an andere weitergeben möchten.
Nur, was immer Sie als feste
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